In Klausurenphasen gewinnt man manchmal den Eindruck, Kliniker sitzen so hoch auf ihrem Expertenturm, dass sie eine andere Sprache sprechen. Was sie als Selbstverständlichkeiten ansehen, sind für uns Studenten schwierige Details – ein großes Missverhältnis zwischen „uns“ und „denen“.
Was ich mag am Medizinstudium: Es geht um den Menschen. Manchmal etwas mehr um seinen Körper, manchmal etwas zu sehr um einzelne Enzyme, Transmitterüberschuss oder Hormonlevel. Das alles bis ins letzte Detail verstehen und behalten zu können. Dieser Anspruch erscheint mir teilweise unmöglich und ist manchmal frustrierend. Und das mag ich zwischendurch auch mal nicht am Medizinstudium.
Vor lauter Folien den Berufswunsch nicht sehen
Es lohnt sich, sich zwischendurch mal wieder etwas weiter weg zu bewegen von den Vorlesungsfolien und dem Klausurenplan. Und sich bewusst zu machen, worum es wirklich geht: Irgendwann ein Arzt zu werden, der seinen Patienten hilft. Der in seiner Nische Experte ist und trotzdem einen guten Überblick über alles andere hat. Und der daher durchaus auch mal einen Einblick gehabt haben sollte in Details. Und wenn es nur dazu führt, dass später der Gedanke „da war doch was“ aufploppt und an der richtigen Stelle gesucht oder nachgefragt werden kann.
Als Hausarzt geht es darum, die Weichen zu stellen, ernst erkrankte Patienten herauszufiltern und an die richtigen Kollegen zu adressieren; und nicht so ernst erkrankte Patienten zu beruhigen, behandeln, betreuen. Und auch als Spezialist geht es darum, seine Grenzen zu kennen und mögliche Differenzialdiagnosen im Kopf zu haben; und dort, wo das eigene Fachgebiet aufhört, zu wissen, welche anderen dort anfangen.
So sehe ich das zumindest. Und mit so einer Einstellung motiviere ich mich auch durch die letzte Klausurenphase. Ja, ich habe nämlich das zehnte Semester fast abgeschlossen. Und ehrlich gesagt, ist es mir inzwischen egal, ob ich in einer Klausur zwei Fragen nicht wusste, obwohl ich sie hätte wissen können, wenn ich im letzten Moment doch noch mal die Folien durchgeklickt hätte. Vielleicht hätte ich dann statt einer drei eine zwei bekommen. Aber wäre ich deshalb später zu einem besseren Arzt geworden? Nein. Denn im Langzeitgedächtnis hätte ich diese Informationen wohl nicht abgespeichert. Wichtiger ist mir, hoffentlich die großen und wichtigen Dinge verstanden, durchschaut, gelernt zu haben.
Damit möchte ich nicht falsch verstanden werden. Ich wettere nicht gegen das Lernen oder sehr strebsame Kommilitonen. Ich finde nur, dass es wichtig ist, bei allem Druck und Stress nicht zu vergessen, was die persönlichen Ziele sind und warum es genau diese sind. Denn das hilft dabei, etwas entspannter zu sein. Und obendrein hoffentlich trotzdem eine gute Ärztin zu werden.
In der Praxis kaum Kolibris
Was ich noch so über mich weiß inzwischen: Ich lerne gerne praktisch. Das macht Spaß, die Kollegen sind meist nett und es ist viel lebensechter, am Patientenbett zu stehen und abends mal was nachzuschlagen, als sich in der Bib zu verkriechen. Und nach fünf COPD-Patienten und drei Diabetes-Beratungen habe ich das notwendige Wissen im Kopf, ohne mich dafür stundenlang in der Bib gequält zu haben. Beim praktischen Lernen ist es auch viel einfacher, einzuschätzen, was relevant (da besonders häufig) ist, und was interessante Kolibris sind. So nennen unsere Professoren (meist höchst interessiert, teilweise gar liebevoll) seltene Krankheitsbilder. Ich mag Kolibris auch, aber ich finde, es ist in Ordnung, sie nicht alle beim Vornamen zu kennen.
Also gehe ich gerade etwas entspannter durch die Klausuren; habe aber beschlossen, in den Ferien noch einmal zu famulieren, obwohl ich es genau genommen nicht müsste. Denn darauf habe ich Lust. Und für mein späteres Arztdasein ist es obendrein auch gut. Und wer wäre ich, mir dafür gar ein schlechtes Gewissen einzureden?
Medizinstudium, inzwischen habe ich gelernt, wie man dich zu nehmen hat und mag dich. Selbst mitten in der Klausurenphase.
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