Draußen ist es weihnachtlich. Lichterketten, selbst gebastelte Sterne, Christbäume und Weihnachtsmänner zieren Fenster, Geschäfte und Vorgärten. Was ist besonders an Weihnachten? Für mich sind es nicht die Bäume, Glitzer oder die Geschenke. Für mich sind es die Gesten, die von Herzen kommen. Die Worte, die ehrlich gemeint sind.
Die kleinen Besonderheiten, die manchmal zum richtigen Zeitpunkt, unglaublich viel Kraft geben. An einen dieser Momente erinnere ich mich immer wieder gerne. Aber lesen Sie selbst:
Es ist 20:45 Uhr. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Heute hatte ich, wie die ganze Woche, 45 Patienten auf der Normalstation zu versorgen. 45 Patienten – die meisten sind steinalt und internistisch ist schon vor dem Unfall die ganze Palette an möglichen Erkrankungen vertreten gewesen. Die Nieren halten sich einigermaßen in Schuss, bis sie dann bei uns landen und die Narkose die letzten Milliliter Ausscheidung killt. Der Zucker, der Blutdruck, die Herzrhythmusstörung, die Leber, das Gedächtnis, die verborgene Demenz. Da gibt es keine Reserve nach der Narkose und der OP. Das ist einfach für jedes einzelne System der Overkill. Zwei Patienten sind auf Intensiv gelandet, eine nach der Reanimation verstorben. Sechs Entlassungen, Sechs Aufnahmen. Aufklärungen, Angehörigengespräche, Vorbereitungen für die OPs am Folgetag.
Die Privatstation soll ich auch noch machen
Der einzige Ansprechpartner für die Schwestern, Patienten und Angehörige heute, war, wie die ganze Woche, ich. Personalmangel. Priorität nach Priorität nach Priorität. Keine Zeit für nichts. Ich renne und renne und renne, den ganzen lieben langen Tag.
Jetzt ist eigentlich der Nachtdienst dran. Warum ich noch hier bin? Ab morgen bin ich auch für die Privatstation zuständig. Das heißt, heute Abend war der Chef mit mir dort zur Visite. Damit ich schon mal alle Patienten für die nächste Woche kenne. Die Hälfte der Patienten kenne ich leider nur zu gut. Ihnen gefällt es hier anscheinend, ihre Anforderungen an das Personal sind unerfüllbar hoch. Die andere Hälfte der Patienten sind ebenfalls internistisch vernachlässigte kranke Alte. Die Körper dulden oft keinen zusätzlichen Tag an abwartendem Verhalten. Sie fühlen sich an wie Bomben, deren Zündschnur gerade eben angezündet wurde. Die Lunge ächzt und stöhnt, das Wasser ist in den Beinen und nicht in den Gefäßen, die Wunden nässen und heilen nicht. Rosige Zukunft.
Patienten, Fortbildung, Notaufnahme, Tränen
Morgen muss ich außerdem Fortbildung halten für meine Kollegen. 45 Minuten. Dafür habe ich bisher zwei Powerpointfolien fertig. Das muss ich heute also auch noch erledigen. Zu Hause wird das nichts, deshalb bin ich hier. Und jetzt steht die Schwester im Arztzimmer und gibt mir Bescheid, dass ich in die Notaufnahme kommen soll. Es sei dringend. Mein Diensttelefon ist aus. Also muss sich jemand wirklich bemüht haben, mich zu finden und hat mindestens drei Stationen abtelefoniert. Ich frage, um was es geht. Schulterzucken. „Er sagte, du sollst dich beeilen.“ Also marschiere ich los, Richtung Notaufnahme.
Ich kann nicht mehr. Momentan ist alles zu viel. Auch ich habe keine Reserven mehr. Nicht nach Monaten unter dieser Belastung. Ich verlangsame meine Schritte, als ich merke, dass meine Wangen nass sind. Von meinen Tränen. Ich hasse es. Aber es tut gut. Ich wische die Tränen weg und öffne die Türe zur Notaufnahme.
Meine ganz persönliche Rettung
Eine Frau kommt auf mich zu, ich erkenne sie nicht. „Ich bin Frau Engel, die Frau, die sie letzten Monat in einer Mittwochnacht zusammengeflickt haben. Wissen Sie noch? Ich war gestürzt und mein ganzes Gesicht, die Arme, die Händen, die Beine, die Knie. Alles war offen. Es war schon sehr spät und sie hatten so viele Patienten hier. Aber Sie haben sich trotzdem toll um mich gekümmert. Alle Wunden so sauber genäht. Sehen Sie? Man kann nicht einmal mehr die Narben im Gesicht sehen. Und Sie haben mich gleich beruhigt, waren so herzlich und haben alles organisiert. Ich bin Ihnen wirklich dankbar dafür. Vielen Dank!“
Sie hält einen Korb in der Hand. Darin sind selbst gebackene Kekse, Getränke, eine Karte, Schokolade und Obst. Ich muss schlucken. Aus den Tränen der Wut werden sonst Tränen der Rührung. „Vielen Dank Frau Engel, Sie sind heute meine Rettung.“
Ich kann nicht alles machen
Sie winkt und verabschiedet sich. Als ich mich umdrehe, um zurück zu meinem Schreibtisch zu gehen, steht mein Chef vor mir, der gerade gehen will. Ich sage: „Die Fortbildung muss morgen leider ausfallen. Aufgrund der dünnen Personaldecke ist es aktuell wohl nicht besonders sinnvoll, eine Fortbildung zu halten. Ich werde das dann nächste Woche nachholen.“ Er nickt. „Einverstanden.“ Ich nehme den Korb und gehe nach Hause.
Mein persönlicher Engel kam im Frühjahr. Nicht zu Weihnachten.