Waren Computerspiele früher noch als Killerspiele verschrien, werden sie inzwischen erfolgreich in der Medizin eingesetzt. Spiel dich zum Experten, heißt auch das Motto des Spiels „Emerge“, das zurzeit entwickelt wird und angehende Mediziner auf ihre ersten Einsätze vorbereiten will.
Computerspielen wird häufig unterstellt, dass sie faul, dumm und süchtig machen. Doch richtig eingesetzt können sie über den Spaßfaktor hinaus helfen, Wissen, Geschicklichkeit, Kreativität, soziale Kompetenz und sogar die Gesundheit zu fördern. Eine an der Charité Berlin durchgeführte Studie zur Hirnstruktur ergab, dass jugendliche Vielspieler über ein größeres lokales Hirnvolumen und auch über mehr Hirnrinde verfügten als die vergleichbare Altersgruppe. Deutlich ausgeprägter waren bei den Spielern vor allem Bereiche im vorderen Kortex, die für strategisches Planen, Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis zuständig sind.
Da Computerspiele auch die Intelligenz fördern können, ist es nicht verwunderlich, dass in den letzten Jahren immer mehr Spiele auf den Markt drängen, die nicht nur Unterhaltung bieten wollten. Sogenannte „Serious Games“ haben sich zum Ziel gesetzt, neben Spiel und Spaß einen ernsten Bildungszweck zu verfolgen. Sie wollen ihren Benutzern spielerisch Wissen und Inhalte vermitteln. Serious Games werden aber nicht nur im klassischen Bildungsbereich eingesetzt. Besonders in der Medizin erscheinen derzeit laufend neue Games, die die eigene Gesundheit, aber auch medizinische Fertigkeiten verbessern sollen. Sowohl Ärzte und Therapeuten als auch Patienten werden mit unterschiedlichsten Spielansätzen angesprochen. So können beispielsweise krebskranke Kinder und Jugendliche im 3D-EgoShooter-Spiel „Re-Mission“ böse Krebszellen mit Medikamenten abschießen und dadurch mehr über ihre Krankheit und Therapieansätze lernen. Andere Health Games leiten zum richtigen Zähneputzen oder zum verantwortungsbewussten Leben nach einem Schlaganfall an. Durch Zusatzgeräte wie beispielsweise dem Balance Board für kamerabasierte Spielekonsolen wie der Playstation oder der Wii rückten in letzter Zeit auch verstärkt die „Exergames“ in den Fokus. Das sind Fitnessspiele, die Sport und Spiel kombinieren (exercise + game). Dies ist aber keineswegs nur für junge Leute gedacht. Mit dem System Mobility Motivator des Instituts für Arbeit und Technik können Senioren sportliche Übungen zu Hause durchführen, um ihre körperliche Fitness, Kraft und Balance zu erhalten. Auch gibt es immer mehr Serious Games in Prävention und Rehabilitation beispielsweise für Diabetiker und Asthmatiker oder zur Suchtprävention.
Weitaus weniger Beachtung finden dagegen Spiele, die das Unterhaltungspotenzial zur Vermittlung von medizinischem Wissen an Ärzte, Therapeuten und Pfleger nutzen. Doch auch solche Serious Games gibt es. Mit dem Inmedea-Simulator, der regelmäßig Anwendung an der Uni Münster findet, können angehende Mediziner beispielsweise virtuelle Patienten in einer Online-Klinik untersuchen und behandeln oder sogar online eine Leichenschau durchführen. Auf der Seite von spomedial können sportmedizinisch Interessierte interaktive Online-Lernprogramme nutzen. Für Zahnmedizinstudenten gibt es Programme (Dental Implant Training Simulation), mit denen sich virtuell das Setzen von Zahnimplantaten simulieren lässt. Ein junges deutsches Start-Up namens PatientZero Games entwickelt zurzeit das Spiel „Emerge“, in dem angehende Mediziner in einer virtuellen 3D-Umgebung, die auf Basis einer typischen Notaufnahme konzipiert wurde, auf reale Behandlungssituationen treffen. Arne Klingenberg, Fabian Jäger und Georg Treml, die Gamedevelopment und Informatik studierten, gründeten vor einem Jahr das Unternehmen, das in Zusammenarbeit mit den Universitätskliniken HamburgEppendorf und Göttingen das Spiel vorantreibt. Doch wie kommt man überhaupt auf die Idee, solche Spiele für Mediziner zu konzipieren? Und wie sieht der Lerneffekt tatsächlich aus? DocCheck hat Georg Treml und sein Team interviewt. © PatientZero. Das Team (von links nach rechts): Fabian Jäger, Annabelle Adamek, Georg Treml und Arne Klingenberg DocCheck: Wie funktioniert euer erstes Spiel „Emerge“ genau? Warum habt ihr gerade die Notaufnahme als ersten Spielort gewählt? Georg: Medizinstudenten sind fachlich hervorragend ausgebildet, aber sie fühlen sich bei ihren ersten Einsätzen in der Notaufnahme oft überfordert. Dies liegt daran, dass in einer Notaufnahme neben dem medizinischen Know-how auch Fähigkeiten gefragt sind, die im Studium der Humanmedizin bis jetzt nur schwer vermittelt werden können. Zum Beispiel ist es in der Notaufnahme sehr wichtig, die Übersicht über mehrere Fälle gleichzeitig zu behalten. In der Universität werden die Studenten jedoch meist nur punktuell mit einem Fall konfrontiert. Darüber hinaus haben sie dort meistens sehr viel Zeit, um sich Gedanken zu machen und die Fälle zu bearbeiten. In der Notaufnahme müssen jedoch sehr oft unter Zeitdruck und mit limitierten Informationen die richtigen Entscheidungen getroffen werden. Um dies auch in der Uni oder zu Hause trainieren zu können, haben wir mit „Emerge“ ein Lernspiel entwickelt, das auf neue Technologien zurückgreift und somit in der Lage ist, eine komplette Notaufnahme mit mehreren Patienten in einem virtuellen 3D Raum zu simulieren. Die Idee dazu kam vom Medizindidaktikers Prof. Dr. med. Tobias Raupach von der Universitätsmedizin Göttingen und Frau Prof. Dr. Sigrid Harendza aus dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. DocCheck: Weshalb sollten Medizinstudenten das Spiel spielen? Und welche Lerneffekte hat das digitale Spiel im Gegensatz zu praktischen Übungen im Studium? Georg: Sehr wichtige Vorteile sind der Aufbau von Automatismen und das Üben von Entscheidungsroutinen, die Fehlerreduktion in der Praxis, das Erlernen von Entscheidungsstrategien in Stresssituationen und der Abbau von Ängsten durch Wiederholungen. DocCheck: Wie seid ihr auf die Idee für das Start-Up PatientZero Games gekommen? Georg: „Emerge“ basiert auf einer Idee des Medizindidaktikers Prof. Dr. med. Tobias Raupach aus der Universitätsmedizin Göttingen und Frau Prof. Dr. Sigrid Harendza aus dem Universitätsklinikum HamburgEppendorf, denen aufgefallen ist, dass die Medizinstudenten heute sehr gut ausgebildet sind, sich aber doch bei ihren ersten Einsätzen in der Notaufnahme oft unsicher fühlen. DocCheck: Welche Herausforderungen musstet ihr anfangs bewältigen? Wie habt ihr diese gemeistert? Georg: Natürlich waren die Finanzen ein großes Thema. Geld fällt in den meisten Situationen nicht vom Himmel, sprich wir mussten ganz am Anfang auch Auftragsarbeit bewältigen, um das Konzept von „Emerge“ voranzutreiben. Im späteren Verlauf kam dann auch der Staat mit seinen Steuern und Abgaben dazu, also mehr Arbeitsaufwand für weniger Geld. Schlussendlich haben wir uns dann entschieden, einen Steuerberater zu beauftragen, um unsere grundsätzliche Buchhaltung zu machen. Das hat uns das Leben dann doch ein bisschen erleichtert. Anfangs waren wir auch nur ein Zwei-Mann-Team und da war es noch nicht so wichtig, unserem Start-Up feste Strukturen zu geben. Doch als das Team gewachsen ist, mussten wir dies schnell etablieren. Zudem ist es als junges Startup mit wenig Geld und einem ziemlich unbekannten Namen und Produkt sehr schwierig, passende Mitarbeiter für wichtige Aufgaben zu finden. Glücklicherweise konnten wir jedoch nach und nach unsere 12 Stellen besetzen. Aber der Weg dahin war auch recht anstrengend. DocCheck: Die Universitätsmedizin Göttingen und das Universitätsklinikum HamburgEppendorf nutzen das Serious Game bereits in der Ausbildung. Wie funktioniert die Kooperation mit den Universitätskliniken HamburgEppendorf und Göttingen? Georg: Die Kooperation mit den Universitäten ist ein wichtiger Bestandteil der Entwicklung, da sie die medizinische Expertise bereitstellen. Damit wir diese ins Spiel integrieren können, arbeiten wir sehr eng zusammen und sprechen regelmäßig die nächsten Entwicklungsschritte miteinander ab. Für beide Seiten ist das ein ständiger Lernprozess und die Schwierigkeit besteht darin, die sehr komplexe medizinische Realität mit den technischen Möglichkeiten so gut es geht abzubilden. Unserer Erfahrung nach funktioniert das am Besten, wenn wir extra Tools (z. B. Editoren, Datenbanken, etc.) für die Mediziner bereitstellen, mit denen sie den medizinischen Inhalt von „Emerge“ selbständig erweitern können. DocCheck: Können auch Laien von dem Spiel profitieren? Georg: Ja, auch medizinische Laien oder Patienten können auf verschiedenen Arten von „Emerge“ profitieren. Zum einen indirekt, denn weniger Unsicherheit bei den angehenden Medizinern bedeutet auch weniger Fehler und mehr Sicherheit und somit eine erfolgreichere Behandlung der Patienten. Des Weiteren ist es für Laien oft schwer nachzuvollziehen, warum sie in der Notaufnahme so lange warten müssen. Zusammen mit dem Universitätsklinikum HamburgEppendorf arbeiten wir deshalb an einer Version, genannt Emerge for Everyone (EfE), mit der wir versuchen, Laien einen Einblick in die Notaufnahme zu geben und ihnen die Abläufe näher zu bringen. DocCheck: Wie kann man euer Spiel erwerben? Georg: Aktuell ist die Entwicklung des Spieles noch nicht abgeschlossen. Eine erste Studentenversion mit spielerischem Inhalt versuchen wir im Laufe des nächsten Jahres auf den Markt zu bringen. Für Universitäten steht aber bereits eine Ausbildungsversion zur Verfügung, zu der man sich auf unsere Homepage genauer informieren kann. Für weitere Fragen kann man sich natürlich auch persönlich an uns wenden. DocCheck: Plant ihr noch weitere Spiele in Zukunft? Georg: Für die Zukunft planen wir „Emerge“ um weitere Bereiche eines Krankenhauses zu erweitern, zum Beispiel die Intensivstation. Wir konzentrieren uns dabei auf Abläufe und Prozesse, bei denen Zeit ein wichtiger Faktor ist und die sich nur schwer mit gängigen Lehrmethoden trainieren lassen. Das spielt nicht nur für Ärzte eine wichtige Rolle, sondern schließt alle Mitarbeiter auf den Stationen ein. Wir würden daher auch gerne eine Version für Pflegekräfte anbieten, da diese vor ihrem ersten Einsatz nicht minder gestresst sind.
Serious Games wie „Emerge“ können den Studenten dabei helfen, sich auf den stressigen Alltag, in dem oft schnelle Entscheidungen auf Grundlagen unzureichender Informationen gefragt sind, vorzubereiten. Man lernt einfach viel schneller und besser, wenn man Spaß an der Sache hat. Das sieht auch der Informatiker und Multimedia-Experte Professor Peter Henning von der Universität Karlsruhe so, der betont, dass Spiele schon lange zur Bildung eingesetzt werden: „Ein Spiel zu spielen, war eine der ersten Strategien, um komplexe Abläufe und Strukturen zu erlernen. Wann immer wir spielen, lernen wir. Die Frage müsste also sein: Warum nehmen wir uns überhaupt den Spaß am Lernen weg?“ Inwieweit Serious Games in Zukunft allerdings flächendeckend zur Ausbildung von Medizinern eingesetzt werden oder ob sie doch nur von einer kleinen Zielgruppe genutzt werden, bleibt abzuwarten. Zusatzinformation: Hier könnt ihr kostenlos die Demo-Version des Spiels schon jetzt testen. Auf seinem Youtube-Kanal zeigt Georg Treml wie „Emerge“ funktioniert.