Heiligabend habe ich Jesus kennengelernt. Er war sturzbesoffen und kam direkt aus dem Schnapsladen. Ich traf ihn in London bei der wohl größten Weihnachtsfeier des Landes: 4.000 Obdachlose werden von 10.000 freiwilligen Helfern versorgt. Ich war als Arzt dabei.
Die Geschichten, die Jesus mir erzählt hat, waren mehr als haarsträubend und vermutlich größtenteils erlogen. Möglicherweise hatte er auch ein psychiatrisches Problem, ich weiß es nicht. Er war obdachlos, tippelte mit seinem Hund durch London und nach seinem wirklichen Namen habe ich ihn nicht gefragt. Er hätte ihn mir auch nicht verraten.
Er nannte sich Jesus und ich habe ihn zu Weihnachten kennen gelernt, als er in einer abbruchreifen Fabrikhalle Unterschlupf gefunden hatte. In London organisiert die Wohltätigkeitsorganisation „Crisis“ seit 1972 alljährlich während der Weihnachszeit ein riesengroßes Event für Obdachlose. Geboten wird viel mehr als bloß ein Dach über dem Kopf und warme Mahlzeiten: Im Angebot sind nicht nur soziale Beratungen, medizinische und zahnärztliche Betreuung, Friseure und Fußpfleger sondern auch ein umfangreiches Kulturangebot. Die mittlerweile weit über 4.000 obdachlosen „Gäste“ werden von bis zu 10.000 freiwilligen Helfern betreut.
Ich war einer davon. Ich lebte in England, hatte keine Lust, die Weihnachtsfeiertage im fremden Land ganz alleine in meiner ungemütlichen und zugigen Wohnung zu verbringen und als ich von dem Projekt erfuhr, meldete ich mich ohne zu zögern an. Ich musste Referenzen und Bescheinigungen einreichen und an zwei Vorbereitungstreffen teilnehmen.
Keine Drogen, kein Alkohol, keine Waffen
Am späten Nachmittag des 23. Dezembers stieg ich dann in einem Süd-Londoner Gewerbegebiet aus dem Vorortzug, ging eine regennasse Straße entlang und fand mich vor dem Eingang des „Shelters“ wieder. Ein großes Schild weist auf die Grundregeln hin: keine Drogen, kein Alkohol, keine Waffen, keine Gewalt. Die „Gäste“ müssen sich durchsuchen lassen, die „Volunteers“ gelangen durch einen Nebeneingang in ein kleines Büro. Da trage ich mich in eine Liste ein und bekomme einen Anstecker, den ich mit meinem Namen beschrifte. Jetzt gehöre ich dazu.
In einem Aufenthaltsraum sitzen vielleicht zwanzig Leute auf wackeligen Bänken und Stühlen und trinken Tee aus Styroporbechern. Irgendwo quäkt ein Funkgerät. Es gehört zu einem hageren Mann in einem knallbunten Hemd, der sich suchend umschaut. „Ich brauche drei Leute für eine Umfrage!“, sagt er. Ich melde mich. Der Hagere drückt jedem von uns ein Klemmbrett mit Fragebogen und Stift in die Hand, dann geht es durch eine kleine Tür in die riesengroße Halle.
Drinnen herrscht Volksfeststimmung: Musik und Stimmengewirr, es riecht nach Mensch. Leute sitzen an Tischen oder auf dem Boden, trinken Tee, unterhalten sich, einige haben sich auch schon in Schlafsäcken auf dem Boden zurechtgerollt. Ein junger Mann – Halbglatze, Spitzbart und glitzerbuntes Kostüm – geht durch die Reihen und gibt Zaubertricks zum Besten. Im hinteren Teil der Halle ist eine Bühne aufgebaut, da singt ein Kinderchor Weihnachtslieder. Auf der anderen Seite wird jetzt das Abendessen ausgeteilt.
Während die Gäste essen, sollen wir sie befragen: Wo kommen sie her, wo sind sie aufgewachsen, wie leben sie jetzt? Die meisten geben gerne Auskunft und freuen sich über das Interesse.
„Da war mal wieder Bombenalarm“
Interessanterweise leben nur die Wenigsten wirklich auf der Straße. Viele haben irgendeine Art von Unterkunft: Sie leben in Wohnwagen oder leerstehenden Gebäuden, oft ohne Heizung und sanitäre Anlagen, einige haben sich vorübergehend bei Freunden oder Bekannten auf dem Sofa oder Fußboden einquartiert, andere sind in Wohnheimen untergekommen. Viele geben offen zu, Alkohol- oder Drogenprobleme zu haben.
Als das Abendessen beendet ist, gehe ich zum Aufenthaltsraum zurück. Die Funkgerätbewehrten Schichtleiter teilen uns für neue Jobs ein: Wir stellen Feldbetten auf für die Nacht. Aber nicht alle Gäste wollen schlafen. In einer Ecke gibt es die ganze Nacht über Kaffee und Tee für diejenigen, die lieber wach bleiben. Einer erzählt seine Geschichte. Er kommt aus Südafrika, wo er sich eines Tages mit der Polizei angelegt hatte. „Erst haben sie mich halbtot geprügelt und dann haben sie gesagt: Morgen finden wir Drogen in Deinem Auto, und dann machen wir Dich alle!“, also ist er abgehauen. Später hat er angefangen, zu trinken, und dann hat ihm ein Arzt erzählt, er leide an Schizophrenie.
Er grinst. Dann erzählt er, wie er heute Nachmittag am Bahnhof London Bridge gesessen und gebettelt hat, da war mal wieder Bombenalarm. Alle Reisenden mussten den Bahnhof verlassen, er aber ist einfach sitzengeblieben. Und alle Leute sind an ihm vorbei gerannt ohne ihn zu beachten, selbst Polizei und Feuerwehrleute. Gegen fünf Uhr früh wird ein großer Sack mit Toilettenartikeln hereingebracht. Die Sachen sind begehrt, die ersten Frühaufsteher decken sich mit Shampoo, Zahnbürsten und Deo ein und verschwinden in Richtung Duschen.
Ein guter Bettel-Platz muss verteidigt werden
Später werden die Feldbetten wieder weggeräumt und vor der Essensausgabe bildet sich die Schlange fürs Frühstück. Als meine Schicht zu Ende ist, bin ich müde und euphorisch. Draußen scheint die Sonne, der Himmel ist blau und es ist klirrend kalt, die Pfützen sind zugefroren. Ich fahre in die Stadt: im roten Doppeldeckerbus die belebte Oxford Street entlang, wo der große finale Einkaufsrummel in vollem Gange ist. In den Unterführungen am Marble Arch liegt ein Obdachloser im Schlafsack auf einer Unterlage aus Decken und Pappkartons. Er bettelt mich um Kleingeld an. Warum ist er hier und nicht im Shelter?
Später lerne ich: Ein guter Bettel-Platz muss gegen Konkurrenz verteidigt werden, sonst ist er weg! Im Hyde Park setze ich mich auf eine Bank, schließe die Augen, lasse mir die Sonne ins Gesicht scheinen und kann kaum glauben, dass heute Heiligabend ist.
Wenige Stunden später bin ich zum Dienst im „Medical Centre“ eingeteilt. Das improvisierte Gesundheitszentrum befindet sich ein wenig abseits und ist durch dünne, halbhohe Trennwände abgeteilt. Unsere Patienten werden zuerst von einer Krankenschwester gesehen. Die Schwester fragt nach dem Namen. „Verrate ich nicht!“, sagt der bärtige Patient, dessen Alter kaum zu schätzen ist. Einer schleppt seine gesamten Habseligkeiten in mehreren Plastiktüten mit sich herum und lässt sie keine Sekunde aus den Augen.
„Dann gib uns irgendeinen Namen!“, sagt die Schwester, „nur damit wir wissen, wie wir Dich nennen sollen!“
Er nuschelt etwas Unverständliches. Die Schwester fragt weiter nach Alter, Lebensumständen und natürlich nach den Beschwerden, dann legt sie eine Art Krankenakte an, die sie an mich weiterreicht.
Vier Sinne und ein Stethoskop
Ich geleite den Patienten in eine kleine Kabine. Die Plastiktüten nimmt er mit. In der Kabine gibt es zwei Stühle und eine Liege. Mein Patient klagt über schweren Husten – offenbar leidet er seit Jahren an Asthma, nimmt aber keine regelmäßigen Medikamente, da er keinen Hausarzt hat und nur ab und zu, wenn es ganz schlimm ist, in die Notaufnahme geht. Langsam schält er sich aus mehreren Lagen Kleidung. Bei der Untersuchung bin ich auf meine fünf Sinne und das Stethoskop angewiesen – apparative Diagnostik, Röntgen oder Labor gibt es nicht. Ich verschreibe einen Inhalator und begleite meinen Patienten zu unserer improvisierten Apotheke, wo er das Mittel gleich in Empfang nehmen kann.
Die Liste der vorrätigen Medikamente ist überschaubar, deckt aber die wichtigsten Indikationen ab. Antibiotika sind vorhanden – Benzodiazepine oder Opiate hingegen grundsätzlich nicht. Für Drogenabhängige gibt es nichts abzustauben – das wird klar kommuniziert und auch weitgehend akzeptiert.
Insgesamt entsprechen unsere Möglichkeiten dem Standard einer mittelmäßig ausgestatteten Hausarztpraxis. Erstaunlich viele Patienten klagen über schmerzende Füße, häufig sind auch Hautausschläge, alle Arten von Wunden und natürlich Erkältungskrankheiten. Eine junge Frau schreit und tobt – zu dritt gelingt es uns, sie halbwegs zu beruhigen, es stellt sich heraus, dass sie in psychiatrischer Behandlung war, dies aber abgebrochen hat.
Eine andere Frau müssen wir mit Verdacht auf anaphylaktischen Schock mit dem Rettungsdienst in die Notaufnahme des nächstgelegenen Krankenhauses bringen. Die Zeit verfliegt. Um zehn Uhr abends ist die Sprechstunde zu Ende. Ein Kollege bringt mich zu meiner Unterkunft. Als wir im Auto die angestrahlte Tower Bridge überqueren, wird mir klar, dass ich heute in wenigen Stunden mehr über diese Stadt gelernt habe als in den vielen Wochen zuvor.
Weitere Informationen: www.crisis.org.uk