Die Liegezeiten in den Krankenhäusern sind aufgrund neuer Abrechnungssysteme immer weiter verkürzt worden. Patienten bleiben höchstens einen Tag länger, als die untere Grenzverweildauer es vorschreibt. Bei einer Operation ist man sich aber einig darüber, wie wichtig eine postoperative Überwachung ist: bei der Entfernung der Gaumenmandeln.
Lennard sitzt wie ein Häufchen Elend auf dem Behandlungsstuhl. Er ist fast so blass wie die frisch geweißte Wand hinter ihm. Ich sitze dicht vor ihm, falls er doch vom Stuhl rutscht.
Frau Böttcher, seine Mutter, steht unruhig neben ihm – offensichtlich von Vorwürfen geplagt. Nur gegen wen sie diese richten soll, hat sie wohl noch nicht beschlossen. Meine Meinung diesbezüglich steht längst fest, aber diese jetzt offen zu äußern, würde an der Situation nichts ändern und noch mehr Unruhe erzeugen.
„Es hat so lange gedauert, bis der Notarzt da war. Das werde ich nie vergessen!“, beklagt sie sich. „Ich dachte, er verblutet mir vor den Augen! Warum haben die das nicht richtig operiert?“
Warum brauchte Lennard eine Tonsillektomie?
Die Tonsillektomie ist immer noch eine der häufigsten Operationen in Deutschland. Nach Veröffentlichung der Leitlinien ist sie etwas seltener geworden. Lennard hatte in den letzten zwei Jahren zehn eitrige Entzündungen, die von den Mandeln ausgingen. Nach Abstrichen mit Antibiogramm zeigte sich, dass sie von einem Keim verursacht wurden, der schon auf einige Antibiotika resistent reagierte. Die Indikation zur Tonsillektomie war gegeben. Das berühmte Risiko einer Nachblutung bleibt immer, selbst beim erfahrendsten Operateur mit der schonendsten Technik.
Vorzeitige Entlassung gegen ärztlichen Rat
„Es ist jetzt ganz wichtig, dass du dich schonst! Alles, was die Gefäße weitet oder den Blutdruck nach oben treibt, kann wieder zu einer Nachblutung führen!“, erkläre ich Lennard und seiner Mutter zum mittlerweile fünften Mal. Im Krankenhaus gab es diese dringende Belehrung bestimmt noch mal so häufig.
„Die Wahrscheinlichkeit einer Nachblutung sinkt, je länger die Operation her ist. Jetzt ist alles noch frisch. Und jetzt hast du auch nicht mehr so viele Reserven“, ergänze ich mit einem strengen Blick in Richtung Mutter.
„Mein Gott, er ist erst 14! Und wenn ihm langweilig ist, muss ich doch etwas tun. Er hat es im Krankenhaus nicht mehr ausgehalten. All die kranken Kinder und so wenig Unterhaltung. Da musste ich ihn einfach rausholen!“, entgegnet die Mutter, als hätte sie ihren Sohn gerade aus den Fängen einer Bande von Entführern gerettet. Noch während ich diesen Gedanke habe, sagt sie: „Das war ja Freiheitsberaubung! Und das Essen hat auch nicht geschmeckt.“
Die Mutter übernimmt die Verantwortung?
„Wegen der Gefahr einer Nachblutung sollte man aber fünf Tage im Krankenhaus bleiben. Dort kann einem rasch geholfen werden. Schneller, als wenn man weit entfernt auf dem Lande …!“, ich werde unterbrochen.
„Was soll ich denn machen, wenn er mich schon am ersten Tag anruft, dass er abgeholt werden muss. Immerhin ist er zwei Tage dageblieben. Heutzutage bleibt man doch nicht mehr so lange im Krankenhaus!“, unterbricht mich Frau Böttcher.
Zwei Tage – statt fünf! Direkt am Nachmittag saß Lennard dann schon vor mir. Stolz, dass er sich durchgesetzt hatte. Im Entlassungsbrief hatte natürlich gestanden, dass die Entlassung gegen ärztlichen Rat erfolgt war.
„Ich musste ihn dort rausholen, er war so unglücklich. Da habe ich die Verantwortung übernommen“, hatte sie bereits vor wenigen Tagen, unmittelbar nach der Befreiung ihres Kindes, behauptet.
Die Videospiele warten nicht
Ich wollte zu diesem Zeitpunkt schon mit einer Diskussion beginnen, zügelte mich aber. Ich sah keinen Sinn in einer Auseinandersetzung über Verantwortung.
Nun sitze ich wenige Tage später wieder mit Mutter und Sohn hier. „Und dann ist er abends …“, setze ich an.
„Meine Kumpels wohnen mit dem Rad doch nur 10 Minuten weg. Und die hatten unser Spiel einfach ohne mich weitergespielt. Da musste ich hin!“ Lennard ist wieder hellwach, nicht mehr so blass.
Natürlich, Lennard drohte ins soziale Abseits zu geraten, weil er bei einem Konsolenspiel seinen Avatar nicht weiterbringen konnte. Eigentlich hätten die Eltern auch Schuld, weil sie diese Konsole nicht gekauft hatten, sodass er nicht zu Hause online spielen konnte, sondern vor Ort bei seinem Freund sein musste. Fast konnte man etwas Zornesröte auf den Wangen erkennen. Aber die wenigen noch verbliebenen Erythrozyten hielten den Organismus an anderer Stelle des Körpers am Laufen.
Irgendwie waren jetzt auch die Eltern des Freundes Schuld, weil sie nicht sofort den Rettungswagen, sondern die Mutter angerufen hatten. Immerhin waren die wenigstens im Haus. Als sich Lennard auf sein Rad schwang, waren die Böttchers bei den Nachbarn.
Kann so viel selbstverschuldet schieflaufen?
Ich fasse noch einmal kurz zusammen: Lennard wird früher aus dem Krankenhaus abgeholt und dann allein gelassen. Er fährt mit dem Fahrrad zu seinen Freunden und hat dort im Wohnzimmer eine Nachblutung während eines Videospiels. Die Eltern des Freundes alarmieren die Mutter, die dann erst dorthin fährt und kurze Zeit später den Notarzt ruft. Eine Stunde Stunde und einige Nierenschalen voller Blut später wird er im 30 km entfernten HNO-OP versorgt.
Ich überlege kurz, wo ich meine Kopfschmerztabletten deponiert habe. Es pocht gegen meine Schädeldecke bei so viel Irrsinn und Verantwortungslosigkeit. „Lennard!“, versuche ich es noch einmal eindringlich. „Du hast viel Blut verloren bei dieser Nachblutung. Viele Reserven hast du nicht mehr. Du musst dich unbedingt schonen, zu Hause. Keine Action mehr für mindestens zwei Wochen!“
Zur Mutter gewandt sage ich: „Frau Böttcher! Sie müssen auf Ihren Sohn aufpassen, damit das nicht wieder passiert. Weichen Sie ihm in den nächsten Tagen nicht von der Seite!“
„Sie haben mir das eingebrockt“
„Ich soll alles absagen? Na, toll! Und den Teppich von Schneiders soll ich auch noch reinigen lassen. Warum habe ich mich nur von Ihnen zu dieser Operation überreden lassen.“
Ein Schmerz im Hirn lässt mich Luft holen und meine gesamte Muskulatur anspannen. A-u-s-a-t-m-e-n! Mit gepressten Lippen.
Im weiteren Verlauf ist alles gut gegangen. Ich frage mich noch im Nachhinein, wie eine Mutter in dieser Situation eigentlich Verantwortung übernehmen kann. Hätte man sie zur Verantwortung gezogen, wenn ihr Sohn einen ernsthaften dauerhaften Schaden davon getragen hätte? Müsste man ihr die Mehrkosten für Notarzt, Notoperation, erhöhte Krankenhauskosten und zusätzliche Behandlungen bei mir in Rechnung stellen?
Verantwortung – zu häufig nur eine Worthülse! Und Schuld haben immer die anderen.