Nach dem Tod einer multimorbiden, älteren Patientin, stelle ich mir die Frage, ob wir nicht mehr für sie hätten tun können. Ich hatte von Beginn an meine Zweifel, ob wir sie je wieder entlassen. Die ethischen Grundsätze haben wir zwar eingehalten. Die Angehörigen sind sich aber einig: Wir hätten sie retten müssen.
Neulich hatten wir einen Todesfall auf der Station. Da ich auf einer Akutgeriatrischen Station arbeite, ist ein Exitus, so makaber das klingen mag, keine Seltenheit. Dieser hier war aber besonders unschön. Die Patientin kam mit Blutungen aus dem Duodenum zu uns. Die Blutung wurde auf der Intensivpflegestation mittels einer Unterspritzung mit Adrenalin gestoppt, da das Abklemmen des Blutgefässes nicht möglich war. Das hat auch geklappt. Für etwa zwölf Stunden. Danach ging's von vorne los und man entschied sich, sie nur noch symptomatisch zu behandeln.
Wir haben alles getan und konnten doch nichts tun
Gestorben ist die Patientin schließlich aber nicht an der Blutung, sondern an einer Aspiration. Oder einer Lungenembolie. Da keine Obduktion stattfand, wissen wir es nicht so genau. Leider. Denn die Angehörigen, die das mit ansehen mussten, warfen uns unmittelbar danach vor, wir hätten nicht genug getan und ihre Mutter einfach sterben lassen. Wir haben sie noch abgesaugt und Reanimationsalarm gegeben, obwohl der Status negativ war. Wir haben alles getan und konnten doch nichts tun. Sie hatte noch ein paar mal Schnappatmung, aber mehr dann leider auch nicht. Die Reanimation wurde abgebrochen.
Die vier Grundsätze der Ethik
Ein extrem frustrierendes Gefühl, was mich zum Grübeln gebracht hat. Auch was Ethik angeht. Jedem Pfleger werden schon in den ersten Woche der Ausbildung die ethischen Grundsätze beigebracht: Hilfeleisten, Nicht-Schaden, Respekt vor der Autonomie des Patienten und Gerechtigkeit. Nach meiner Ansicht haben wir alle erfüllt. Wir haben die Frau mit Morphinifusionen behandelt, haben sie auf eine Wechseldruckmatratze umgebettet, damit sie sich nicht wundliegt, ihr Magenschutz i.v. gegeben und haben sie beim Essen begleitet, um sicherzustellen, dass sie sich nicht verschluckt. Wir haben ihre Wünsche und ihre Anliegen respektiert, haben ihr genau die gleiche Sorgfalt und Behandlung zukommen lassen wie jedem anderen auch. Die ethischen Grundsätze wurden eingehalten.
Die Angehörigen wollen es nicht wahrhaben
Trotz des negativen Reanimationsstatus haben wir alles unternommen, um die Frau zu retten. Die Angehörigen sehen das aber nicht so. Ihnen wäre es am liebsten gewesen, wenn wir die Patientin noch unter Reanimation auf die Intensivpflegestation gebracht hätten. Dass die Chancen schon von Beginn des Aufenthaltes schlecht für die Patientin standen, wussten die Angehörigen. Sie wollten und konnten es aber nicht wahrhaben. In ihren Augen haben wir die Patientin einfach ersticken lassen. Nüchtern betrachtet war die Frau aber mehr als nur ein bisschen multimorbid: Die Beine voller Ulcera, schwer adipös, die Blutung aus dem Duodenum hörte nicht auf, sie war dement und bettlägerig, hatte trotz der Infusion Schmerzen, war zum Teil somnolent, lagerte trotz Diuretika Flüssigkeit ein. Ich hatte von Beginn an Zweifel, ob wir es schaffen würden diese Patientin nochmal zu entlassen. Trotzdem kam ihr Tod sehr überraschend.
Aus rein emotionaler Sicht kann ich die Angehörigen aber absolut verstehen. Wäre es meine Mutter gewesen, die dort liegt, ich wüsste nicht, ob ich mich hätte beherrschen können. Wir können leider nicht alle retten. Und hier stellt sich auch schon die nächste ethische Frage: Sollten wir das denn auch?