Der Acetylcholinhemmer begann eine bescheidene Karriere als Faltenglätter. Dann eroberte er ernstere medizinische Indikationen. Nun soll er auch gegen Kopfschmerz, Migräne und sogar Depressionen wirken. Ein Blick auf die Studien zeigt: Der Hype steht auf wackligen Beinen.
In Deutschland ist Botulinumtoxin (BTX) für Erwachsene mit chronischer Migräne zugelassen – aber nur, wenn vorbeugende Medikamente, wie etwa Metoprolol und Propranolol, nicht ausreichend wirken. Für dieses Einsatzgebiet wird BTX alle zwölf Wochen ins Muskelgewebe von mehr als 30 Stellen im Kopf- und Nackenbereich gespritzt. Die Mechanismen, mit denen Botulinumtoxine möglicherweise Migräne und Kopfschmerz lindern, sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht eindeutig geklärt. Angenommen wurde, dass gespannte Muskeln in Gesicht und Nacken entspannt werden und auf diesem Wege Migräne gelindert wird. Andere Theorien stellen Acetylcholin oder andere Botenstoffe in den Mittelpunkt. Bewiesen ist bisher nichts.
BTX blockiert die Ausschüttung des Botenstoffs Acetylcholin an den Nervenenden. Das Gift führt in großen Mengen zu Lähmungen, entspannt aber stark verdünnt die Muskulatur und wirkt dadurch vorbeugend gegen Lähmungserscheinungen. Vermutlich ist der therapeutische Effekt bei Migräne und Kopfschmerz komplexer als einfache Muskelentspannung, die das Ergebnis der Hemmung der Acetylcholinfreisetzung über eine Spaltung von SNAP-25 (synaptosomales Protein) an der neuromuskulären Synapse ist. Wahrscheinlich wirkt BTX auch antinozizeptiv. Studien von Cernuda-Morollón et al liefern den Nachweis, dass die durch BTX bedingte Spaltung von SNAP-25 auch die Freisetzung von Substanz P, Glutamat und CGRP hemmen könnte. Diese Transmitter sind in der Schmerzentstehung und –weiterleitung involviert. Eine weitere Studien von Mauskop et al belegt, dass der CGRP-Level eine Aussage darüber zulassen würde, ob der Migränepatient von einer Botulinumbehandlung profitiert. Diese Analyse ist jedoch derzeit nur experimentell anwendbar. Die nozizeptiven Effekte sind daher wahrscheinlich das Ergebnis seiner inhibitorischen Effekte an peripheren, aber nicht zentralen Neuronen. Stiftung-Warentest beurteilt die Wirksamkeit skeptisch: „Das Nervengift wirkt gegen zwei wichtige Kopfschmerzarten gar nicht und gegen chronische Migräne nur ein bisschen. Zudem erscheint die Studienlage dürftig.“
Neuropathische Schmerzen sind eine große therapeutische Herausforderung. Eine aktuelle Studie von Attal et al. sieht eine Option für Botulinumtoxin A. Die Schmerzintensität wurde für 24 Wochen reduziert. Noch sei es allerdings zu früh, um Botulinumtoxin A im klinischen Alltag gegen neuropathische Schmerzen einzusetzen, kommentierte Prof. Hans-Christoph Diener, Pressesprecher der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), die Ergebnisse. Auch die S-1-Leitlinie der Gesellschaft sieht derzeit noch keine Indikation. Kann so ein Ultragift gefahrlos über längere Zeit angewendet werden, ohne Nerven zu schädigen? Die Deutsches Gesellschaft für Ästhetische Botulinumtherapie gibt Entwarnung. Botulinumtoxin wird seit fast 30 Jahren und in relativ hohen Dosen zur Behandlung krankhafter Muskelverkrampfungen (Spasmen) eingesetzt. Aus diesen Erfahrungen weiß man, dass Botulinum keine langfristigen Nebenwirkungen hervorruft. Mikroskopische Untersuchungen konnten zeigen, dass nach dem Abklingen der Botulinumwirkung keine bleibenden Veränderungen an den Nerven oder Muskeln resultieren.
Die Anwendung von Botulinumtoxinen bei muskuloskelettalen Erkankungen ist einleuchtend. Kann das Toxin aber auch psychische Erkrankungen günstig beeinflussen? Marc Axel Wollmer von der Asklepios Klinik Nord in Hamburg beschäftigt sich mit diesem Thema. Im Zentrum seiner Studien steht der Musculus corrugator supercilii, auch „Stirnrunzler“ genannt. Der Muskel bewegt die Augenbrauen. Bei Depressiven ist er überaktiv, er wurde von Charles Darwin bereits 1872 als „Trauer-Muskel“ bezeichnet. Der Hamburger Forscher ist der Meinung, dass die „Facial-Feedback-Schleife“ – „Depression –> Sorgenfalten –> mehr Depression“ durch Botulinum unterbrochen werden kann. Eine Hypothese, die allerdings umstritten ist. Für die erste Studie aus dem Jahr 2012 haben Wollmer und Kollegen 15 leicht bis mittelschwer depressive Patienten mit Botulinumtoxin und 15 weitere mit Placebo behandelt. In einem Zeitraum von 16 Wochen verschwanden nicht nur die Falten. 60 Prozent der Patienten in der Verumgruppe berichteten von einer spürbaren Besserung der Depression – interessanterweise auch über das Abklingen des kosmetischen Effekts hinaus. Auch wenn weitere Arbeiten des Forscherteams die positiven Ergebnisse unterstützen, ist Skepsis angebracht. Das Patientenkollektiv war sehr klein und bei Therapien mit einer Spritze jeglichen Inhalts ist der Placeboeffekt nicht zu unterschätzen. Pharmakologisch wäre eine Wirkung von Botulinumtoxin zumindest erklärbar. Der Neurotransmitter Acetylcholin triggert bei einem Überangebot Schlafstörungen und Depressionen. Die Hemmwirkung von Botulium vermag hier regulierend einzuwirken. Zumindest ist dieser postulierte Wirkmechanismus griffiger als eine Behavior-Erklärung.
Motiviert durch die guten Ergebnisse bei Depressionen wagte das Forscherteam Wollmer/König einen Versuch mit Borderlinepatienten. Diese Störungen erweisen sich häufig als therapieresistent. Die oft weiblichen Patienten leiden an extremen Stimmungsschwankungen. Warum nicht auch hier ein Therapieversuch mit Botulinum? Sechs Borderline-Patientinnen, deren Krankheitssymptome sich zuvor durch Psychotherapie, Antidepressiva und Antipsychotika nicht gebessert hatten, erhielten einmalig Botulinumtoxin in die mittlere untere Stirn gespritzt. Die Krankheitssymptome reduzierten sich deutlich. Impulsivität, Stimmungsschwankungen und Niedergestimmtheit nahmen ab und das Sozialverhalten verbesserte sich. Doch bei einer so geringen Anzahl an Studienteilnehmern ist Vorsicht geboten. Wie können sechs Boderline-Patientinnen, bei denen Psychotherapie, Antidepressiva und Antipsychotika nicht halfen, in einem solchen Maß von einer einmaligen Spritze Botulinumtoxin profitieren? Ähnlich wie bei den Studienergebnissen zur Depression stellt sich auch hier die Frage nach dem Wirkmechanismus. Jetzt werden weitere Probanden gesucht, um die Studie mit einem größeren Kollektiv fortzuführen. „Botox könnte das bisher einzige zugelassene Medikament gegen Persönlichkeitsstörungen werden. Es hat zudem den Vorteil, dass seine Wirkung monatelang anhält“, sagt Professor Tillmann Krüger von der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover voller Überschwang.
Weitere Anwendungsgebiete für Botulinumtoxine stehen schon in den Startlöchern. Eine russische Forschergruppe testete die intraoperative Infiltration von Botulinumtoxin in das epikardiale Fettgewebe nach chirurgischer Myokardrevaskularisation. Studienziel war die prophylaktische Wirkung gegen das Auftreten von Vorhofflimmern nach einer Bypassoperation. Gegenüber Placebo erwies sich das Toxin als signifikant wirksam. Erstaunlicherweise hielt der protektive Effekt über mehr als ein Jahr an.