Samstag Abend. Wochenendtrip. Wandern in der Herbstsonne und Urlaubsfeeling. Einfach entspannend. Ich sitze im Restaurant und genieße mit meiner Familie das gute Abendessen. Hier gibt es das beste Schnitzel der Welt.
Findet auch der Gast am Nebentisch. Er verkörpert zu 100 Prozent das Klischee eines Wohlstands-Deutschen. Wir lachen uns schlapp über den unglaublich perfekt dargestellten Stereotyp. Das Schnitzel vor sich, das dritte Glas Bier, die Hose unter dem dicken Bauch wird mit Hosenträgern festgehalten. Er unterhält sich lautstark mit seinem Tischnachbarn, der ihm in Sachen Wohlstands-Klischee in nichts nach steht.
Leider schlägt das Gespräch schnell um. Statt über das gute Essen wird jetzt über Gesundheits- und Krankheitsthemen gesprochen, sodass meine Entspannung irgendwie nachlässt. Schade.
Von Hüften, Herzinfarkten und Diabetes: Alles klein Problem mehr
Er erzählt, dass er beim Orthopäden war. Wegen der Hüfte und den Schmerzen. Jetzt habe er endlich einen Termin bekommen, um die künstliche Hüfte einbauen zu lassen. Aber vorher solle er noch zum Herz-Doktor. Obwohl doch alles gut sei mit dem Herzen. Klar, er habe Bluthochdruck und müsse Tabletten einnehmen, die das Blut verdünnen. Und das bisschen Zucker. Aber das sei doch heutzutage kein Problem mehr. Schließlich ist das doch medizinischer Alltag. Er kenne so viele Freunde, die auch einen kleinen Herzinfarkt hatten. Da geht man eben ins Krankenhaus und lässt sich ein paar solcher Stents einbauen. Ist ja heute kein Problem mehr. Wenn er da an früher denke!
Da hätten die Menschen ja noch zwei Wochen oder länger im Krankenhaus bleiben müssen. Denen hätte man den ganzen Brustkorb aufgemacht und wieder zusammen genäht, nur wegen einem kleinen Herzinfarkt. Heute, ja heute, da sei das alles anders. Da darf man nach fünf Tagen wieder heim. Die Technik ist soweit fortgeschritten. Das bedeutet ja heute alles gar nichts mehr.
Irgendwie läuft es nicht für alle gleich gut
Sein Tischnachbar bestätigt die Vermutung. „Ja, also, der Karl hat sich neulich auch eine Hüfte einbauen lassen. Der ist total zufrieden. Nicht mal eine Woche war der im Krankenhaus, da war er schon in der Reha. Und jetzt geht er ohne Gehstöcke wieder wandern. Sogar Fahrrad fährt der ja noch. Aber klar, der Karl, der war ja schon vorher ganz fit. Der kann gar nicht still sitzen. Immer unterwegs ist der. Selbst die Einkäufe erledigt er zu Fuß. Und im Garten macht er ja auch alles selber. Frag doch den Karl mal, wo er seine Hüfte bekommen hat. Vielleicht kannst du deine Hüfte auch dort machen lassen.“
Mir stehen die Haare zu Berge. Hier wird das Schnitzel mit dem Hering in eine große Suppenschüssel geworfen, kräftig umgerührt und dann erwartet, dass es allen schmeckt. Irgendwie hört sich das nicht nach den selben Ausgangsbedingungen an.
Der Stereotype Wohlstands-Deutsche leert sein Bierglas. „Ja, mal sehen. Obwohl, die Inge ist ja überhaupt nicht glücklich. Seit der neuen Hüfte geht es nur Berg ab. Irgendeiner hat da wohl gepfuscht. Da haben sie nach ein paar Wochen nochmal operiert. Und jetzt geht sie immer noch an den Stöcken. Aber die hat ja auch wirklich Pech. Weißt du noch, ihr Mann, der ist ja letztes Jahr einfach so umgefallen. Tot war er. Aus dem heiteren Himmel. Naja, Ober, kriegen wir noch zwei Bier?“
Die Medizin bügelt schon alles wieder glatt?
Ich rolle mit den Augen und mein Mann schüttelt den Kopf. Ja, die Medizin von heute kann schon wirklich Unglaubliches leisten. Aber ein Herzinfarkt bleibt ein Herzinfarkt. Daran kann man sterben. Es scheint, als ob die Menschen die Angst davor verlieren oder sie verdrängen. Weil die Medizin so viel Unglaubliches leistet? Und daraus leitet man dann eine Anspruchshaltung ab, die beinhaltet, dass die Genesung bei jedem gleich gut funktioniert?
Ich bin mir unsicher, der Stereotype Wohlstands-Deutsche ist doch eigentlich nicht dumm, oder?