Seit ich in Elternzeit bin, verarbeitet mein Unterbewusstsein anscheinend meine vergangenen Patientenfälle. Natürlich vor allem die Fälle, die eine Überraschung bereit hielten. Fehler, die ich gemacht habe, gut gelungene Operationen, Patienten, die außerordentlich asozial oder übermäßig freundlich waren. Viele Situationen mit Kindern, Jugendlichen und Eltern.
Ich muss auch an den Fall von Jonas denken:
Er sitzt vor mir wie ein Häufchen Elend. Am liebsten würde ich zu ihm gehen und ihn umarmen, wenn das nicht glücklicherweise schon seine Mutter machen würde. Die Distanz zu halten, fällt mir schwerer als bei anderen Patienten. Sein Gesicht ist kindlich, die Augen riesengroß, fragend, die Tränen stehen darin, seit er in der Notaufnahme ist. Er ist mit dem Fahrrad gestürzt und hat sich den rechten Unterarm gebrochen. Er ist Rechtshänder und malt gern.
Und wieder fällt das Trainingslager aus
Jetzt müssen wir den Unterarm operieren. Da sein distales Radioulnargelenk gesprengt ist (DRUG), muss ein zusätzlicher Draht eingebracht werden, der erst nach einigen Wochen entfernt werden kann. Ruhigstellung, Oberarmgips. Es werden wohl Erinnerungen an das letzte Jahr wach. Damals hat er sich im Freibad das linke Sprunggelenk gebrochen. Krankenhaus, OP, sechs Wochen keine Belastung, kein Sport für zwei Monate, mit seinen Fußball-Freunden konnte er nicht trainieren und die Saisonvorbereitung war dahin.
Sein Vater bringt den geliebten Teddybären vorbei. Ich kläre ihn für die Operation auf. Seine Mutter und sein Vater sind anwesend und unterschreiben mit auf dem Aufklärungsbogen. Als ich den Raum verlasse, folgt mir die Mutter. „Bitte kümmern Sie sich um Jonas. Das alles überfordert ihn doch sehr. Jetzt kann er dieses Jahr wieder nicht mit ins Trainingslager. Er ist doch sehr sensibel. Vielleicht ist es ja möglich, dass er ein Einzelzimmer bekommt, damit er wenigstens gut schlafen kann.“ Jonas wird auf meiner Station liegen. Ich verspreche ihr, mich gut um ihn zu kümmern. Dem Wunsch nach einem Einzelzimmer kann ich leider nicht nachkommen.
Der Teddybär wacht jede Nacht über ihn
Als ich dem Anästhesisten Kai anrufe, um die Narkoseaufklärung zu organisieren, suche ich alle Unterlagen und Informationen zusammen. „Hallo Kai. Ich habe hier einen Patienten mit einer Unterarmfraktur in der Notaufnahme, der noch aufgeklärt werden muss. Gesunder Patient, keine Nebenerkrankungen, die Narkose letztes Jahr hat er gut überstanden. Er ist 24 Jahre alt, aber er möchte, dass seine Eltern bei der Aufklärung dabei sind. Gefühlt ist der Patient noch keine 18. Aber das wirst du ja gleich selbst sehen.“
In der darauf folgenden Woche erhalte ich jeden Tag mindestens einen Anruf von den Eltern, die sich nach Jonas Gesundheitszustand erkundigen, obwohl meistens einer der Angehörigen bei der Visite anwesend ist. Sein Bett und sein Nachtschrank sind völlig überfüllt: mitgebrachtes Essen, Süßigkeiten, Bücher, Blumen und Fotos stapeln sich darin. Der Teddybär schläft jede Nacht unter seiner Decke.
Irgendwann muss man loslassen können
Anscheinend gibt es bei Jonas keine diagnostizierten psychologischen Auffälligkeiten. Er hat einfach zwei Eltern, die sich rührend um ihn kümmern. Für meinen Geschmack etwas zu rührend. Ich hoffe doch sehr, dass sich mein Kind mit 24 Jahren mit mehr Selbstvertrauen durch das Leben bewegen wird. Und ich das Kind soweit loslassen kann, dass ich nicht mehr auf der schriftlichen Aufklärung unterschreibe. Aber wer weiß?