Homosexualität liegen epigenetische Prägungen zugrunde, so Forscher aus den USA. Sie ernteten dafür formal und inhaltlich massive Kritik. Unabhängig davon stellt sich mir die Frage nach der Motivation einer solchen Studie. Selbst wenn das stimmt - forscht man dann als nächstes an einer „Heilung", oder an Screenings zur Früherkennung? Fördern solche Ergebnisse Akzeptanz oder Ausgrenzung?
Zugegeben, rein aus genetischem oder wissenschaftlichem Interesse ist die Frage spannend, welchen Selektionsvorteil Homosexualität mit sich bringt. Der Evolutionslehre nach dürfte sich die Veranlagung für eine sexuelle Orientierung, die nicht der Fortpflanzung dient, in Populationen eigentlich nicht durchsetzen. Trotzdem ist Homosexualität in allen Kulturen genauso wie im Tierreich anzutreffen. Warum ist das so?
Family first
Ein Erklärungsansatz ist die Gay-Uncle-Hypothesis, die das Evolutionsprinzip Survival of the Fittest ausweitet auf Survival of the Fittest Family. Sie besagt, dass kinderlose Mitglieder für eine Familie im Laufe der Evolution von Vorteil gewesen sein könnten – vorausgesetzt, dass diese ihre Ressourcen (wie zum Beispiel Essen, Aufsicht, Schutz) dem Nachwuchs ihrer nächsten Verwandten bereitstellten. Die Gay-Uncle-Hypothesis ist somit Teil der Sippenselektionstheorie, die sich mit der Vererbung von kooperativem und selbstlosem Verhalten zwischen Lebewesen beschäftigt. Demnach habe ein Individuum ein Interesse daran, seine Verwandten in der Aufzucht ihrer Nachkommen zu unterstützen, da dies das Weiterbestehen und die zukünftige Verbreitung seiner eigenen Erbinformationen fördere.
E. O. Wilson war einer der bedeutendsten Evolutionsbiologen nach Darwin und sagte einst: „Homosexuality gives advantages to the group by specialized talents and unusual qualities of personality. A society that condemns homosexuality harms itself.”
Der Zauber der Epigenetik
Es gibt Forscher, die diese Theorie mit epigenetischen Ansätzen stützen. Die Tatsache, dass der eineiige Zwilling eines homosexuellen Mannes in ca. 20 Prozent ebenfalls homosexuell ist, legt einen genetischen Zusammenhang nahe. Da dieser Wert jedoch nicht bei 100 Prozent liegt, vermutet man, dass Umwelteinflüsse ebenfalls eine entscheidende Rolle spielen. Die neue Wissenschaft der Epigenetik beschäftigt sich mit Veränderungen am Erbgut, die durch Umwelteinflüsse hervorgerufen werden – ist somit also praktisch das Bindeglied dieser zwei Faktoren.
Ziel der Veränderungen ist es, den Organismus dynamisch an Umwelt und Lebensumstände anzupassen. Die DNA-Sequenz selbst wird dabei nicht geändert und doch zeigen sich Auswirkungen auf den Phänotyp. Hierfür werden Gene beispielsweise durch Methylierung der DNAan- und abgeschaltet oder durch Histon-Modifikationen hoch- und runterreguliert. Das epigenetische Muster eines Menschen verändert sich während seines Lebens somit fortlaufend.
Grundlage für epigenetische Überlegungen bezüglich Homosexualität waren verschiedene Studien, bei denen folgende Beobachtungen auffielen:
Manche Forscher vermuten daher, die Schwangerschaft mit einem Jungen könne epigenetisch prägende Effekte auf die Mutter haben. Da epigenetische Merkmale vererbt werden können, würden jene Prägungen bei einer weiteren Jungen-Schwangerschaft an das Ungeborene weitergegeben werden. Die homosexuelle Veranlagung würde demnach bereits im Uterus entstehen. Dass bei den Ergebnissen nur von Männern die Rede ist, liegt übrigens daran, dass das Thema bisher fast ausschließlich an Männern erforscht wurde.
Zusammengefasst geht man also davon aus, dass die sexuelle Orientierung bei Menschen stark mit genetischen Veranlagungen verknüpft ist und auf molekularer Ebene reguliert wird.
Die besagte umstrittene Studie der University of California, Los Angeles (UCLA) bietet weitere Hinweise dafür. Dort untersuchten die Forscher das genetische Material von 47 männlichen eineiigen Zwillingspaaren auf übereinstimmende Muster der DNA-Methylierung. Sie fanden in neun verschiedenen Regionen Marker, anhand derer ein Algorithmus die sexuelle Orientierung mit einer Genauigkeit von 70 Prozent vorhergesagt werden konnte.
Die Ergebnisse sind jedoch mit Vorsicht zu bewerten. Die Anzahl der Studienteilnehmer war sehr klein, Ursache und Auswirkung jener epigenetischen Marker bisher völlig ungeklärt. Zudem wird dem Institut von Wissenschaftlern vorgeworfen, sie hätten die Ergebnisse fälschlicherweise als statistisch signifikant eingestuft.
Nur weil man es kann?
Unabhängig davon stellen sich mir viele grundsätzliche Fragen. Sind Studien, die der Ursache für Homosexualität nachgehen, zeitgemäß? Was macht das mit der Stellung von Homosexuellen innerhalb einer Gesellschaft? Grenzt man sie mit solchen Forschungsfragen nicht zusätzlich aus?
Was für Gefahren bringen die Erkenntnisse – sollten sie zutreffen - mit sich? Wir leben in einer Zeit, in der mit CRISPR/Cas9 Gene „korrigiert” und umgeschrieben werden können. Übernimmt bei dem Thema irgendjemand die Verantwortung dafür, dass im Prozess nicht die Büchse der Pandora geöffnet wird? Der Genetiker Moshe Szyf erklärt in seinem Ted-Talk, dass epigenetische Prägungen durch Demethylierung rückgängig gemacht werden können. Bietet sich dann zukünftig die Möglichkeit zur Korrektur von Homosexualität?
Und überhaupt: Gibt es nicht viel dringendere und relevantere Themen, die der Forschung bedürfen?
Andererseits …
Studien belegen, dass ca. 29 Prozent der homosexuellen Teenager in den USA Suizidversuche unternehmen, weil sie unter Mobbing und Ausgrenzung leiden. Führt vermehrtes und verbreitetes Wissen über Homosexualität und deren genetischen und soziologischen Hintergrund zu einer höheren Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung?
In Indien wird Homosexualität mit 14 Jahren Haft bestraft, weil sie „against the order of nature” sei. Könnte man solch homophobe Gesetzgebungen bekämpfen, indem man beweist, dass das Gegenteil der Fall ist? Die Formulierung „wider der Natur“ klingt unglaublich. Doch selbst in Deutschland existierte bis 1994 der §175 des deutschen Strafgesetzbuches, der sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe stellte.
Die Diskriminierung aufgrund einer Eigenschaft, auf die man so wenig Einfluss hat wie auf die eigene Augenfarbe, ist unfassbar. Wäre der Umgang mit Homosexuellen damals anders gelaufen, wenn man bereits das heutige Wissen gehabt hätte?
Ich finde zu all den Fragen für mich kein abschließendes Fazit. Ich bin aber auf einen Ted-Talk des Kardiologen James O'Keefe gestoßen, den ich zum Schluss nur wärmstens empfehlen kann. Als Vater eines homosexuellen Sohns betont er in seiner Rede, welchen Stellenwert Vielfalt in unserer Gesellschaft hat. Er beschreibt seinen Sohn als sozialen und emotionalen Stützpfeiler der gesamten Familie und ruft dazu auf, Homosexualität nicht als Abnormität zu sehen, sondern als unschätzbare Bereicherung.