Angefangen hat es, als sie gerade 20 geworden war. Sie stand am Busbahnhof und sah plötzlich die Zeiger der Bahnhofsuhr verschwommen. Je angestrengter sie schaute, desto mehr wurde ihr bewusst, dass das Bild flimmerte und die Größe des flimmernden Zackenkranzes vor ihren Augen stetig zunahm.
Gleichwohl konnte sie die Uhrzeit lesen, aber es kostete Kraft, und eine Panik vor dem Unbekannten stieg in ihr auf. Panik, das Bewusstsein zu verlieren, Panik, auf den Bussteig nieder zu sinken.
Sie arbeitete zu dieser Zeit im Kinderkrankenhaus im Pflegepraktikum, ihre medizinischen Kenntnisse waren begrenzt. Ein zu niedriger Blutdruck oder Blutzuckerspiegel? Eine Multiple Sklerose? Ein Schlaganfall? Nach circa 20-30 Minuten war der Spuk beendet und sie hoffte, es bliebe eine einmalige Angelegenheit.
Genau eine Woche später ging sie mit ihrem Freund ins Kino. Wieder kam es zur gleichen Situation, nur dass sie diesmal entspannt in einem Kinosessel saß und damit Kreislaufprobleme sehr unwahrscheinlich wurden. Mit Beginn des Hauptfilmes bebte ihr Gesichtsfeld in einem Flimmerfinale und verschwand dann so plötzlich, wie es gekommen war. Ein leichter Kopfdruck machte sich breit und blieb den ganzen Film über bestehen: „Nach 5 im Urwald“ mit Franka Potente. Eine deutsche Komödie, sie hatte viel gelacht und ihre Sorgen vergessen.
Der erste Arzttermin
An das dritte Mal, ebenfalls exakt eine Woche später, erinnert sie sich nicht mehr detailliert. Es führte aber dazu, dass sie einen Arzttermin vereinbarte. Da ihr Gesichtsfeld betroffen war und damit ihr Sehvermögen, suchte sie einen Augenarzt auf. Dieser nahm sich viel Zeit mit seiner 20-jährigen Patientin, führte eine Perimetrie (Gesichtsfelduntersuchung) durch, spiegelte ihren Augenhintergrund und teilte sie anschließend mit, hierbei handele es sich um einen normalen degenerativen Prozess. Die Symptome seien Zeichen eines Alterungsprozesses, sie solle sich weiter keine Sorgen machen. Da man sich gemeinhin mit 20 Jahren in der Blüte seines Lebens befindet, schienen ihr seine Worte sehr befremdlich, seine Entwarnung bezüglich ihres Gesundheitszustandes führte jedoch zu einem Jahr Symptomfreiheit.
Migraine sans Migraine
Als es sie wieder ereilte, war sie bereits Medizinstudentin im ersten Semester in einer anderen Stadt und ging abermals zu einer Augenärztin. Diese stellte ad-hoc die richtige Diagnose, veranlasste keine weitere Diagnostik und sagte ihr, da könne man nichts machen: „Migraine sans migraine“, nannte sie es. In den folgenden Jahren nahm die Frequenz peu a peu zu, zunächst dreimal im Jahr, später dreimal im Monat, zuletzt mindestens einmal pro Woche. Nun suchte sie endlich einen Neurologen auf, bekam ein EEG, eine MRT und die Empfehlung eines Betablockers, der ohne Wirkung blieb. Mittlerweile hatte sie gelegentlich auch andere Aura-Phänomene: Negative Skotome (schwarze Flecken), Phosphene (Lichtblitze) und Kribbelparästhesien (Kribbelmissempfindungen), die einmal über die ganze Hand liefen und die Hand anschließend für ein paar Minuten taub, aber nicht gelähmt zurückließen. Doppelbilder traten auf, jeweils nur für wenige Minuten und ein diffuses Schwindelgefühl.
20 Jahre später
Im Verlauf ihrer Assistenzarztzeit besuchte sie in der Hoffnung auf neue wisenschaftliche Erkenntnisse diverse Fortbildungen diverser Kopfschmerzexperten, sie konnte aber keine wesentlichen finden, außer den Eindruck, damit alt werden zu können.
Vor der Medikation mit einem Antiepileptikum war sie immer zurückgeschreckt, vor allem wegen ihres Kinderwunsches. Auch für eine Medikation mit Thrombozytenaggregationshemmer, die man ihr probatorisch vorschlug, reichte der Leidensdruck nicht. Aufgrund einer anderen Erkrankung nimmt die Patientin nun doch passager einen Thrombozytenaggregationshemmer ein. Nach über 20 Jahren hochfrequenter Migräneaura ist sie seit 8 Monaten beschwerdefrei.