Die derzeit ablaufenden internationalen Migrationsbewegungen in der Welt bringen zum einen viele hilfesuchende Menschen zu uns, zum anderen hierzulande längst vergessen geglaubte Krankheiten. Die Behandlung wird häufig durch Sprachbarrieren und kulturelle Unterschiede erschwert, ist aber auch aufgrund des fehlenden Praxiswissens seitens der Ärzte durchaus nicht selten problematisch.
Täglich verlassen Schätzungen zufolge etwa 30.000 Menschen ihre jeweilige Heimat oder werden von dort vertrieben. Als Hauptursachen gelten neben Kriegen und bewaffneten Auseinandersetzungen zunehmend auch Hunger, Armut sowie Perspektivlosigkeit im Heimatland oder rein wirtschaftliche Interessen.
Bei unbegleiteten – zum Teil chronisch kranken – Minderjährigen, die überwiegend aus dem Kaukasusgebiet zu uns kommen, tritt zusätzlich ein weiteres Motiv in den Vordergrund: die medizinische Versorgungsflucht. Die Kinder erhoffen sie sich in Deutschland eine bessere medizinische Behandlung für ihre jeweilige Situation und verlassen deshalb ihr Heimatland.
Wie ist mit der neuen Situation in der Praxis umzugehen?
Die Gesundheitsversorgung von Migranten ist oft nicht einfach. Behandelnde Ärzte sind unsicher, welche „neuen“ oder in Deutschland seltenen Krankheitsbilder sie wohl sehen werden, ob von den Patienten eine erhöhte Infektionsgefahr ausgeht, wie sie die kulturellen bzw. sprachlichen Barrieren im Praxisalltag überwinden sollen, oder wer am Ende für die nicht immer unerheblichen Kosten einer Behandlung aufkommt.
Ferner haben viele der Flüchtlinge meist ein ganz anderes Verständnis von Krankheit und Gesundheit oder sie leiden aufgrund von Folter und Krieg unter starken psychischen Einschränkungen. Der Arzt findet andererseits kaum Studien und Evidenzen, die ihm die Behandlung seltener Krankheitsbilder erleichtern würden, da viele der Erkrankungen in Europa seit Jahrzehnten nicht mehr aufgetreten sind.
Folterschäden, Mangelernährung aber auch bei uns seltene Erbkrankheiten, wie beispielsweise die Sichelzellanämie, gehören zu den durchaus häufigen Bildern bei Flüchtlingen. Cave: Die Sichelzellanämie sollte bei Verdacht selbst vor kleineren operativen Eingriffen stets abgeklärt werden. Die Betroffenen benötigen aufgrund der veränderten Erythrozyten-Morphologie eine differenziertere Anästhesie- und OP-Planung.
Nicht immer ist der Anblick leicht zu ertragen
Darüber hinaus finden sich Tuberkulose, Skabies, Malaria und Bilharziose, also zum Teil in den Tropen beheimatete Infektionskrankheiten. Deren Diagnostik ist mitunter aufgrund für hiesige Ärzte nicht leicht, denn leider bildet das aktuelle Ausbildungsspektrum der Medizin in Deutschland diese Faktoren viel zu oberflächlich ab. Cave: Auch bei ungeklärten genitalen Anzeichen, wie einer schwer zu therapierenden Epididymitis oder wiederholt auftretenden granulomatösen Entzündung, sollte bei Flüchtlingen und Migranten immer auch an eine urogenitale Tuberkulose gedacht werden.
Ein weiteres Problem, welches beim behandelnden Arzt zudem mit sehr großer Wahrscheinlichkeit kulturelle Konflikte auslösen wird, ist die weibliche Beschneidung. Bei der vor allem in Zentralafrika durchaus weit verbreiteten Praxis sind es unter anderem die Beschneidungen vom Typ III, die Ärzte hierzulande unvorbereitet sehr hart treffen können. Bei einer Beschneidung des Typs III werden neben der Klitoris auch die kleinen und großen Schamlippen entfernt und die Frauen anschließend vernäht.
Meist bleibt lediglich ein marginaler Rest einer Harnröhrenöffnung bestehen, durch die die Miktion sehr erschwert abläuft. Diese Frauen haben daher im weiteren Leben häufige Harntrakt-Komplikationen, die einer urologischen Versorgung bedürfen. Am häufigsten kommt es zu rezidivierenden Harnwegsinfektionen, zur Strahlabschwächung, zu Obstruktionen, zum Harnverhalt mit fortschreitender Niereninsuffizienz sowie zu Harnröhrenfisteln und Blasensteinbildungen.
Sind Flüchtlinge per se infektiöser?
Flucht und Vertreibung bringen es mit sich, dass Flüchtlinge viel stärker von Infektionskrankheiten betroffen sind. Aber sind sie deshalb auch ein Ansteckungsrisiko für die Allgemeinbevölkerung? Die Antwort ist ein klares Nein. Aufgrund von Mangelerscheinungen und allgemeiner Schwächezustände sind Flüchtlinge eher durch Infektionskrankheiten gefährdet. Der fehlende Impfschutz und die körperliche Nähe zu anderen Schutzsuchenden in den Erstaufnahmeeinrichtungen fördern das Infektionsrisiko dieser Gruppe dann weiter.
Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Dass sich seit einigen Jahren bei uns und ebenso in Italien Masernepidemien ihren Weg bahnen, ist keineswegs den Migranten anzulasten. Denen fehlt zwar oft der Impfschutz – was in Zeiten jahrelanger kriegerischer Auseinandersetzungen durchaus nachvollziehbar ist. Das Problem sind aber vielmehr die ungeimpften „Empfänger“ in Europa, wodurch ein flächendeckender Masernschutz leider nicht gewährleitet ist.
Ein weiteres Problem bei der medizinischen Versorgung von Flüchtlingen sind multiresistente Erreger, ganz besonders die gramnegativen MRGN-Stämme. Zum einen gibt es in vielen der Herkunftsländer keine Beschränkungen beim Zugang zu Antibiotika, wodurch sie wie Bonbons frei gehandelt und unsachgemäß eingenommen werden können. Schlechte Hygienebedingungen und der Transit durch Länder mit einer hohen MRE-Prävalenz begünstigen zusätzlich die Besiedlung mit resistenten Stämmen.
Empfehlung des RKI: Ein generelles Screening von Asylsuchenden auf MRE soll nicht erfolgen. Allerdings wird ein MRSA-Screening bei Krankenhausaufnahme in den ersten 12 Monaten nach Ankunft in Deutschland empfohlen. Ein Screening auf 4MRGN bei Krankenhausaufnahme wird bei Asylsuchenden nur dann empfohlen, wenn sie Kontakt zum Gesundheitssystem im Heimatland oder auf der Flucht hatten sowie bei unklarer Anamnese.
Die ärztliche Aufklärungspflicht verlangt nach Dolmetschern
Die ärztliche Aufklärungspflicht erfordert eine umfassende Information des Patienten, damit dieser fundiert über die Einwilligung zu einer möglichen Therapieoption entscheiden kann. Im Umgang mit Flüchtlingen besteht aber in der Regel eine Sprachbarriere. Hinzu kommen nicht selten kulturelle Barrieren. Dies wirken sich gemeinsam nachteilig auf die gesundheitliche Versorgung aus.
Für die Übersetzungsarbeit dürfen – so wird es vom Gesetzgeber gefordert – nur zertifizierte Dolmetscher im Arzt-Patienten-Gespräch eingesetzt werden. Das oft allzu verlockende Angebot, einen nichtzertifizierten Dolmetscher, z. B. minderjährige Familienangehöriger oder den Ehemann, zu fragen, gilt als eine nicht im Sinne des Gesetzes erfolgende Aufklärung. Denn hierbei besteht die Gefahr eines Solidaritätskonfliktes seitens der übersetzenden Familienangehörigen, sodass wichtige medizinische Informationen falsch oder gar nicht übermittelt werden.
Und wer zahlt die Behandlung?
Die Bezahlung der Behandlungen für Asylsuchende ist durch das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) geregelt. Allen über 18 Jahren und mit einem Aufenthalt in Deutschland < 15 Monaten stehen nur eingeschränkte Leistungen zu, z. B. bei Schmerzen und akuten sowie lebensbedrohenden Erkrankungen. Das Gleiche gilt für Impfungen gemäß der STIKO-Empfehlungen sowie für die Vorsorgeuntersuchungen bei Kindern und Schwangeren. Oberhalb von 15 Monaten Aufenthaltsdauer in Deutschland kommen die Asylsuchenden in den Genuss der vollumfänglichen Leistungen.
Ein Sonderfall sind jedoch unbegleitete minderjährige Patienten: Diese unterliegen nicht dem AsylbLG und bekommen daher von Anfang an jede medizinische Behandlung erstattet.
Zuständig für die Zahlungsmodalitäten sowie die Ausstellung von Behandlungsscheinen ist das ortsansässige Sozialamt. Die elektronische Gesundheitskarte, wie sie in einigen Bundesländern bereits umgesetzt ist, unterliegt bis zum 15. Monat ebenfalls den gesetzlichen Beschränkungen, vereinfacht jedoch den administrativen Aufwand erheblich.
Fazit
Migranten sind eine epidemiologisch relevante Patientengruppe, die nicht per se gefährlicher ist als die Allgemeinbevölkerung, sehr wohl aber als in besonderem Maße infektiologisch vulnerabel gilt. Um Unsicherheiten auf Seiten der Ärzte zu vermeiden, muss die Migrantenmedizin zukünftig Teil der Ausbildungen für Ärzte und Pflegepersonal werden.
Migration wird angesichts der weltweiten Entwicklungen nicht einfach wieder über Nacht verschwinden, sodass es ein Bedürfnis und eine Verpflichtung sein sollte, sich in diesem Bereich weiterhin fortzubilden. Darüber hinaus sollten Flüchtlinge einen niederschwelligen Zugang zu medizinischer Versorgung erhalten, der überregional geregelt wird – denn: Gesundheit ist ein Menschenrecht.
Die adäquate medizinische Versorgung von Flüchtlingen und Migranten erfordert nicht nur spezifische medizinische Kenntnisse, sondern auch interkulturelle Kompetenz sowie Verständnis und Zeit.
Quelle:
Forumssitzung F09 „Urologische Herausforderungen durch Flucht und Migration“, 21.09.2017, DGU-Kongress, Messe Dresden