Der Blätterwald, auch der virtuelle, rauscht gewaltig. Da hat der „Münsteraner Kreis“, eine interdisziplinäre Expertengruppe, es doch tatsächlich gewagt, zu artikulieren, was längst unter Kennern der Problematik unbestritten ist: Der Stand der Heilpraktiker, ja das ganze Heilpraktikerwesen in Deutschland, bedarf entweder ganz grundlegender Reformen oder der völligen Abschaffung.
Schlimm genug, dass der Gesetzgeber auf diese Art und Weise mit der Nase auf das Problem gestoßen werden muss, nachdem er sich im vorigen Jahr – in dem bereits alle heute angesprochenen Probleme längst auf dem Tisch lagen – nur zu einem Mikroreförmchen allenfalls homöopathischen Ausmaßes durchringen konnte.
Die Argumente des Memorandums sind durchgreifend, hinlänglich bekannt und sind auch bisher im Diskurs nie widerlegt worden. Im Kern geht es darum, dass der Gesetzgeber durch seine Duldung des Heilpraktikerstandes aufgrund einer Gesetzeslage von 1939 imaginiert (besser: der nicht informierten Bevölkerung suggeriert), dass es neben der wissenschaftlich fundierten Medizin eine zweite gibt, in der auch noch Beliebigkeiten geduldet werden, die man keinem approbierten Mediziner durchgehen lassen würde.
Gleichgültikeit auf politischer Ebene?
Der von mir immer gern zitierte Prof. Otto Prokop, der Übervater der deutschen Gerichtsmedizin, meinte schon vor Jahrzehnten, dass eine derartige imaginierte Zweiteilung der Medizin nur eines verdeutliche: Dass dem Staat, der so etwas zulässt, die Gesundheit seiner Bürger offenbar einigermaßen egal sein muss (O. Prokop und L. Prokop, Homöopathie und Wissenschaft, 1957).
Nun kann man die Argumentation der Expertengruppe derzeit überall nachlesen, ich empfehle vorzugsweise das Münsteraner Memorandum im Original , es gibt auch eine Kurzfassung. Ich sehe davon ab, hier alles im Detail zu wiederholen. Vielmehr möchte ich etwas ganz Anderes anführen, das eigentlich mit größter Deutlichkeit zeigt, welchen kranken Nerv der Münsteraner Kreis und seine Unterstützer getroffen haben. Worauf ich hinaus möchte: Auf die überwiegende Reaktion der Heilpraktikerszene und ihres Dunstkreises.
Die „Haltet-den-Dieb“-Strategie
Wissen Sie, liebe Leser, was man unter Whataboutism versteht? Das ist der ebenso beliebte wie untaugliche Versuch, sich an einer argumentativen Auseinandersetzung vorbeizudrücken, indem man auf angebliche oder tatsächliche Unzulänglichkeiten der Gegenseite verweist. In der populären Formulierung nennt man diese Art der Frontlinienbefestigung auch die „Haltet-den-Dieb“-Strategie.
Ich kann mich nach dem Lesen zahlreicher Texte des Eindrucks nicht erwehren, dass genau diese eine der Strategien ist, mit denen Heilpraktiker versuchen, Boden gut zu machen. Vergeblich. Im Grunde erzeugen sie damit nur verbrannte Erde auf dem eigenen Terrain. Denn: Niemand, weder die Angehörigen des Münsteraner Kreises, noch sonst ein ernstzunehmender Kritiker pseudomedizinischer Methoden und Institutionen, bestreitet Mängel und Unzulänglichkeiten im Gesundheitswesen.
Für eine bessere Medizin insgesamt
Nur ist eben das Heilpraktikerwesen nach derzeitigem Stand selbst eines der ganz großen Probleme des Gesundheitswesens, denn es trägt unwissenschaftliche Beliebigkeit in einen Bereich, den alle Industriestaaten inzwischen als geschützten Raum für die wissenschaftlich orientierte Medizin etabliert haben.
Die Forderungen des Münsteraner Kreises haben ganz allgemein eine bessere Medizin zum Ziel. Denn man fordert eine konsequente Orientierung hin zu evidenzbasierter Medizin, sinnvolle Bündelung von Ressourcen, das Setzen richtiger Anreize für alle Beteiligten, nachhaltige Stabilisierung und damit Zukunftssicherung des Gesundheitssystems – diese Forderungen stellen sich ohne Anspruch auf Vollständigkeit dar. Dass diesen Zielsetzungen die Tolerierung einer „zweiten“, alternativ-komplementären Scheinwelt diametral entgegensteht, führt jeden Kritiker des Gesundheitswesens zwangsläufig zur Heilpraktikerproblematik.
Kritik am Heilpraktikerwesen ist daher kein Selbstzweck, sondern gehört notwendigerweise zum Eintreten für ein sinnvolles und auf Vernunft begründetes Gesundheitswesen insgesamt. Daran lässt die Selbsterklärung des Münsteraner Kreises nicht den geringsten Zweifel – das „Memorandum Heilpraktiker“ ist nur ein erstes, besonders dringliches Projekt.
Wer kritisiert, sollte selbst kompetent sein
Das Whataboutism-Geschrei der Heilpraktiker-Apologeten richtet sich deshalb im Ergebnis nur gegen sie selbst. Reformbedarf im wissenschaftsbasierten Gesundheitssystem, insbesondere auf dem Gebiet der politischen Rahmenbedingungen, ist unbestritten. Und ich wage mich einmal so weit vor, zu behaupten, dass die Mitglieder des Münsteraner Kreises weitaus bessere Kenner bestehender Defizite im Gesundheitssystem sind als die Vertreter der Heilpraktikerszene. Nicht nur in diesem Zusammenhang ist das Interview mit Dr. Christian Weymayr vom Münsteraner Kreis bei DocCheck wichtig und bemerkenswert.
Deshalb spreche ich dieser Szene nicht nur das moralische Recht, sondern auch die fachliche Kompetenz ab, über die Mängel im Bereich der wissenschaftsbasierten Medizin zu urteilen. Was durch stets wiederholte unqualifizierte Aussagen wie „die Chemotherapie bringt mehr Menschen um, als sie heilt“ oder „tausende Tote jedes Jahr durch ärztliche Kunstfehler“ nur bestätigt wird.
Diffamierung des Gegenübers
Die zweite „Strategie“ der Heilpraktiker – wenn man das höflicherweise einmal so nennen möchte – scheint schlicht die Diffamierung der Kritiker zu sein.
So kann man beispielsweise vernehmen, das Münsteraner Memorandum sei ein „ärgerliches Pamphlet über den Beruf des Heilpraktikers“, es würden „wenige Zitate aus dem Thesenpapier des Münsteraner Kreises reichen, um zu zeigen, worum es geht: um einen Frontalangriff auf den Heilpraktikerberuf.“ Im Verlauf des gleichen Beitrags wird dann den Autoren des Memorandums „Arroganz“ bescheinigt und während gleichzeitig ein bestürzendes Unwissen über die Grundsätze evidenzbasierter Medizin erkennbar wird, lauthals an nur zwei Einzelbeispielen Whataboutism in Reinkultur betrieben. Dass die Kommentare (nicht nur) dort auf Dinge wie die Banerji-Protokolle, den Narayana-Verlag oder auch den Kopp-Verlag Bezug nehmen, möchte ich zwar nicht dem Autor in Rechnung stellen, verdeutlicht aber das Niveau der Debatte.
Gegenargumente zum Gähnen
Beispiele aus den Beiträgen und Kommentarspalten der Print- und Onlinemedien in dieser Art gibt es zuhauf. Da wird gar von „ekelhafter Lobby-Aktivität, um den Heilpraktikerberuf auszurotten“ geredet und den Initiatoren des Münsteraner Kreises bar jedes weiteren „Arguments“ pekuniäres Interesse unterstellt. Was eigentlich nur noch zum Gähnen ist und auf eine der untersten, gerade noch herausziehbaren Schubladen zurückgreift …
Den Vogel abgeschossen hat aber wohl der geschäftsführende Vorstand des Dachverbands Deutscher Heilpraktiker, einem beim Bundestag registrierten Lobbyverband (Nr. 747 der aktuellen Liste) mit einem Hausausweis für den Bundestag (Nr. 208 der Liste). In einem Beitrag der Süddeutschen Zeitung fällt ihm nicht mehr ein, als zu äußern, dass es der Expertengruppe „ausschließlich“ darum gehe, „unliebsame Konkurrenz loszuwerden“.
Natürlich gibt's auch sinnvolle Beiträge
Gemäßigte Stimmen auch aus der Szene leugne ich nicht, wenn sie sich schon einmal in der Empfehlung verdichten, „nicht gleich zurückzuschlagen“. Ich konstatiere aber die weitgehende Abwesenheit eines sachlichen Diskurses, insbesondere bei den Proponenten der Heilpraktikerszene und damit die Widerlegung des alten Naturgesetzes, dass es in den Wald so herausschallt, wie man hineingerufen hat.
Und ich bitte, den vielleicht hier und da etwas sarkastischen Ton dieses Beitrages nicht misszuverstehen. Ich bin weit davon entfernt, mich über die Causa oder irgendwelche Proponenten lustig zu machen. Es ist reine Verzweiflung und auch Enttäuschung über eine Situation, in der ein dringend notwendiger öffentlicher Diskurs angestoßen und von der anderen Seite verweigert wird.
Wir brauchen Aufklärung
Und nein, ich verkenne nicht, dass die jetzt angestoßene Debatte für viele der Beteiligten eine existenzielle Bedeutung haben mag oder zumindest ein Weltbild erschüttert. Das macht die Debatte aber nicht überflüssig. Die Schuld daran, dass sich durch jahrzehntelanges Nichtstun vieles verfestigt hat und nun als Besitzstand angesehen wird, tragen nicht die jetzigen Kritiker.
Es sei mir auch die Anmerkung erlaubt, dass meine ausländischen Freunde in der Regel geradezu entsetzt sind, wenn ich ihnen von den Bedingungen berichte, unter denen hier nicht akademisch ausgebildete „Ausübende der Heilkunde“ Menschen behandeln dürfen. Und nicht zuletzt beklage ich den katastrophalen Wissensstand der breiten Bevölkerung, wenn es um dieses Thema geht. Deshalb ist nicht nur ständige Aufklärung gefordert, sondern auch und vor allem eine klare Positionierung der Politik.
Abschließend noch eine kleine Relativierung
Einige Stimmen weisen zu Recht darauf hin, dass viele Heilpraktiker mit ehrlicher Empathie und einem starken Willen, den Patienten zu helfen, zu Werke gehen. Dass es wohlmeinende und engagierte Heilpraktiker gibt, ist unbestritten, ich kann dies aus eigener Kenntnis bestätigen. Was aber nützt das, wenn sich dieses Wohlmeinen und Engagement an sinnlosen, weil unwirksamen Methoden und Mitteln erschöpft?
Nur mit gutem Willen ist nun mal keine gute Medizin zu machen. Selbst die Tatsache, dass einzelne Heilpraktiker durch ihre Vorbildung in gesundheitlichen Berufen durchaus eine gewisse Qualifizierung besitzen, kann das Grundsatzproblem auch nur relativieren. Diese Personen könnten allerdings in einer vom Münsteraner Kreis ja auch angesprochenen Qualifikationslösung einen guten Platz finden.
Ich hoffe trotz alledem, dass es zu einer sachlichen Debatte auf der politischen Ebene kommen wird. Wichtiger wäre sie mehr als je zuvor, gerade, wenn der zivilgesellschaftliche Diskurs scheitert.
Dieser Beitrag ist in Co-Autorenschaft von Natalie Grams und Udo Endruscheit entstanden, zuerst erschienen hier.