Samstag. Die Notaufnahme ist seit sieben Uhr gefüllt. Was die Dringlichkeit der zu behandelnden Fälle angeht, ergibt sich das Ranking dringend, sehr dringend und extrem dringend. Der dringende Fall, ein Mädchen mit gebrochenem Arm, muss seit vier Stunden warten.
Stürze vom Vortag, sechs Patienten mit RTW und Notarzt, ein Autounfall mit zwei Hochrasanztraumata. Ich sage der Aufnahmeschwester, sie soll die wartenden Patienten informieren. Die Wartezeit wird sich verlängern.
Ich sprinte also zwischen Schockraum, CT und Intensivstation hin und her, bis ich zu Carolin komme. Sie wartet bereits seit vier Stunden. Sie ist zwölf Jahre alt. Leider hat sie sich den Unterarm gebrochen, als sie vom Klettergerüst gestürzt ist. Blöd ist nur, dass die Fraktur offen ist. Wir müssen sie operieren. Unter der sechs Stunden Grenze werden wir nun leider nicht bleiben können.
Wie schnell hätte ich behandeln müssen?
Schon seit einigen Jahren gibt es hierfür ein System. Über die Ersteinschätzung im Manchester Triage System (MTS) werden die Patienten in Kategorien eingeteilt.
Carolin war von der Aufnahmeschwester gelb triagiert. Aufgrund der 6 anderen rot triagierten Patienten konnte ich die geforderte Zeit von max. 30 Minuten jedoch trotzdem nicht einhalten.
Theoretisch ist dieses System sehr hilfreich. Finden auch die Autoren einer Studie aus den Niederlanden (02/2017): Validity of the Manchester Triage System in Emergency Care. Insgesamt 288.663 Patienten aus drei unterschiedlichen Krankenhäusern wurden in die einjährige, prospektive, Multicenter Kohorten-Studie zwischen 2010 und 2012 eingeschlossen. Die Validität des MTS wurde mit einer vorgefertigten Standardreferenz für die eigentliche Dringlichkeit der Behandlung verglichen. Alle Krankenhäuser hatten mindestens 2–5 Jahre Erfahrung mit MTS und alle Notaufnahmeschwestern beherrschten das MTS.
Die Vergleichs-Standard-Einschätzung hatte lediglich 3 Kategorien:
Die Validität des MTS wurde nun daran gemessen, wieviele Patienten korrekt, über- oder untertriagiert wurden. Wobei MTS rot und orange Kategorie 1, gelb und grün Kategorie 2 und blau Kategorie 3 entspricht. Unterteilt wurden die Gruppen je nach Alter: < 1 Jahr, 1–16 Jahre, 16–55 Jahre, 65–80 Jahre und > 80 Jahre.
Zusammenfassen kann man die Ergebnisse wie folgt:
Die Sensitivität beträgt je nach Klinik zwischen 0,47 und 0,87, die Spezifität lag zwischen 0,84 und 0,94. Bei Kindern jedoch liegt die Sensitivität zwischen 0,65 und 0,83, die Spezifität zwischen 0,83 und 0,89.
Es gibt zwischen den unterschiedlichen Krankenhäusern eine große Variabilität. Die Spezifität scheint ausreichend. Die Sensitivität nicht. Das bedeutet, eigentlich höher zu triagierende Patienten werden nicht erfasst oder zu niedrig triagiert. Das wiederum bedeutet höhere Mortalität durch längere Wartezeiten. Vor allem bei sehr alten Patienten und bei Kindern wurde die Dringlichkeit sehr häufig (34%) unterschätzt.
Ist die Triagierung so kompliziert, dass jede Aufnahmeschwester anders triagiert?
Diese Ersteinschätzung dauert maximal eine Minute. Bei einer Sprachbarriere natürlich länger. Es wird eine Liste an Indikatoren abgefragt, um die Priorität der Behandlung zu bestimmen. Eigentlich standardisiert. Und doch hoch variabel. Genau so erlebe ich es in der Praxis. Nicht, weil die Aufnahmeschwestern Fehler machen, sondern weil das System den Fehler trägt. Vor allem bei den ganz jungen und sehr alten Patienten versagt das MTS. Aber uns gehen wertvolle Minuten verloren.
Für wen bietet MTS also einen Vorteil?
Sobald triagiert ist, läuft der Countdown. Die Uhr auf meiner Liste tickt. Sehe ich die Patienten erst später als die geforderte Zeit im MTS, muss ich eine Begründung angeben, warum sie so lange warten mussten. Am Ende des Jahres wird dann ausgewertet, warum die Zeiten überschritten wurden. Oder aber kann, wenn sich die Patienten offiziell über die lange Wartezeit beschweren, nachgelesen werden, warum die Zeit bis zum ersten Arztkontakt so lange war. Bei Carolin nachweislich sechs Patienten im roten Bereich.
Wir sehen nun schwarz auf weiß, wie lange die Patienten schon da sind. Wie lange die Kollegen brauchen, um sie zu behandeln. Ja, es ist zusätzliche Dokumentation für uns und die Triageschwestern, bei 200 Patienten am Tag, gehen mindestens 200 Minuten für die Triagierung drauf. Mehr Papierkrams zum Auswerten. Wir werden vergleichbar. Unsere Verwaltungschefs legen unseren Chefs am Jahresende das Balkendiagramm auf den Tisch – „wir sind zu langsam“. Die Zeitschriften können weiterhin mit tollen Überschriften locken „Notaufnahmen liegen weit über geforderter Maximalwartezeit“.
Schneller arbeiten kann ich übrigens deshalb nicht
Langsamer aber auch nicht. Ist mal wenig los in der Notaufnahme, kann es auch passieren, dass ich die Schmerzen an der Schulter, seit acht Wochen, schon nach drei Minuten beurteilen kann. Habe ich aber in einer Freitagnacht 30 wartende Patienten und einer davon ist ein Patient im Schockraum, der mich eine Stunde in Anspruch nimmt, kann es sein, dass ich den eingewachsenen Zehennagel erst nach 5 Stunden ansehen kann. Und leider muss auch Carolin vier Stunden warten, bis ich ihr ein Schmerzmittel geben und sie auf die Operation vorbereiten kann.
Wie viel Wartezeit ist denn für die Patienten persönlich tolerabel?
Für einen nicht lebensbedrohlichen Zustand in der Notaufnahme? Laut einer durch mich durgeführten, nicht repräsentativen Umfrage mit 188 Teilnehmern in einem sozialen Netzwerk (Twitter), halten
9 % eine Wartezeit von <1 Stunde für angemessen.
62 % der Teilnehmer können eine Wartezeit zwischen 1 und 3 Stunden tolerieren,
29 % der Teilnehmer finden eine Wartezeit zwischen 3 und 6 Stunden tolerabel.
Die Maximalwartezeit laut MTS mit 120 Minuten in Kategorie blau und die gefühlte tolerable Wartezeit bei der Mehrheit der Befragten sind also gar nicht so weit voneinander entfernt.
Meiner Meinung nach bleibt das Grundproblem bestehen. Die meisten Patienten in Kategorie blau und grün gehören nicht in eine Notaufnahme mit einer geforderten Maximalwartezeit von 90 oder 120 Minuten.
Aber seit April 2017 gibt es ja eine neue geheime Farbe:
grau – keine Behandlung in der Notaufnahme notwendig, Maximalwartezeit entspricht Stunden beim ärztlichen Notdient, Tagen bis Wochen bis zum nächsten freien Termin beim Hausarzt oder niedergelassenen Facharzt.