Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) warnt vor mehr als 500 gewaltbereiten Personen mit islamistischem Hintergrund in Deutschland. Deshalb suchen Ärzte Rat bei ihren Mediziner-Kollegen in der Bundeswehr. Können sie von deren Erfahrung profitieren?
Leipzig, Würzburg, Ansbach: Längst ist der islamistische Terror in Deutschland angekommen. Aussteiger halten weitere Anschläge für möglich – erst vor kurzem hatte ein mutmaßlicher Terrorist seine Anschlagspläne für die Düsseldorfer Altstadt enthüllt. Während Ermittlungsbehörden nach Verdächtigen suchen, sehen sich Chirurgen mit völlig neuen Herausforderungen konfrontiert. Plötzlich geht es nicht mehr um Auto- oder Sportunfälle, sondern um Verletzungen mit Nagelbomben oder Maschinengewehren. Die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) und die Bundeswehr bereiten gemeinsam Ärzte auf den Ernstfall vor. Sie setzen auf einen Fünf-Punkte-Plan.
Professor Dr. Dr. Reinhard Hoffmann. Quelle: DGU Dabei geht es vor allem um bundesweite Schulungen für Ärzte – und um die Möglichkeit, von Kollegen mit Erfahrung im Kriegseinsatz zu lernen. Ein erster Schritt: Am 28. September trafen sich Unfallchirurgen und Sanitätsoffiziere zum ersten Meinungsaustausch in größerem Rahmen. Rund 200 Teilnehmer diskutierten verschiedene Perspektiven der präklinischen und klinischen Versorgung von Opfern. „Die Bedrohung durch Terroranschläge bringt für den Zivilbereich völlig neue Verletzungsmuster: Schussverletzungen durch Kriegswaffen, Explosionsverletzungen durch Nagelbomben, Hieb- und Stichverletzungen in allen Körperregionen durch Stichwaffen“, sagt DGU-Generalsekretär Professor Dr. Dr. Reinhard Hoffmann. Denkbar sind offene Verletzungen bis zu sogenannten Blast Injuries mit Verlust von Körperteilen. „Das hat die DGU veranlasst, eine Überprüfung der medizinischen Kapazitäten durchzuführen.“ Es geht um das Wissen an sich, aber auch um standardisierte, eingeübte Prozesse. Durch das TraumaNetzwerk DGU® existieren zwar Strukturen, um zivile Unfallopfer flächendeckend zu versorgen. Komplexe Verletzungsmuster nach Terroranschlägen stellen Ärzte und Rettungskräfte jedoch vor neue Herausforderungen. Chirurgen hoffen, von Erfahrungen des Bundeswehr-Sanitätsdiensts zu profitieren. Dr. Michael Tempel. Quelle: DGU Diese Möglichkeit hält Generaloberstabsarzt Dr. Michael Tempel für durchaus realistisch: „Im Rahmen unserer Einsätze haben wir uns, teilweise auch schmerzlich, eine besondere Expertise bei der Versorgung von polytraumatisierten Patienten mit Schuss- und Explosionsverletzungen erworben, die in der zivilen medizinischen Welt kaum mehr vorhanden ist.“ Gleichzeitig sei man geübt, um mit einem Massenanfall von Verletzten (MANV) umzugehen und mit reduzierten Mitteln zu arbeiten. Ärzte wünschen sich, Wissen des Bundeswehr-Sanitätsdiensts abzugreifen. Ziel ist es, über das TraumaNetzwerk DGU® Erkenntnisse in alle Traumazentren zu transportieren. Der Initiative gehören mehr als 600 Häuser an. Experten planen nicht nur regionale Informationstage und einen Leitfaden. Sie fordern auch, Notfallübungen zu planen und durchzuführen. Das ist leichter gesagt als getan. Um eine Klinik inklusive mehrerer OPs aus dem laufenden Betrieb zu nehmen, sind schnell 100.000 Euro fällig. Investitionen kommen noch hinzu.
Mechanisches Tourniquet-Abbindesystem. Quelle: NDNAM / Wikipedia Schon heute haben Experten Empfehlungen zusammengestellt, um auf mögliche Anschläge besser vorbereitet zu sein. Das bayerische Innenministerium empfiehlt für Rettungsdiensteinsätze bei besonderen Einsatzlagen (REBEL) unter anderem:
Dass es mit weiteren Ausrüstungsgegenständen allein nicht getan ist, zeigen Erfahrungen der Bundeswehr. So gelang es Ärzten nicht immer, Tourniquets richtig zu schließen. Teilweise wurden Blutungen durch die Stauung noch verstärkt. Mittlerweile liegen Handlungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin vor. Gänzlich unterschiedliche Herangehensweisen kommen mit hinzu. Nach einem Anschlag bleibt keine Zeit, um Patienten vor Ort zu stabilisieren, da „Zweitschläge“ drohen. Ärzte lernen beispielsweise Prinzipien wie „life before limb“ („Leben vor Gliedmaßen“), die im zivilen Arbeitsalltag bislang keine nennenswerte Rolle spielen. Einsatz von Tourniquets bei kritischen Extremitätenblutungen inklusive ABCDE-Schema. Quelle: AGBN DGU-Experten schlagen Fortbildungen in drei Bereichen vor. Sie empfehlen neben fachlichen Themen auch taktische, strategische und organisatorische Inhalte. Gleichzeitig wollen sie das bestehende TraumaRegister DGU® um ein Schuss- und Explosionsregister erweitern.