In der Medizin ist es nicht immer sinnvoll, alles Machbare auch wirklich umzusetzen. In den „Laws of the House of God“ wird dies in einem wichtigen Grundsatz zusammengefasst: Die Ausübung der medizinischen Heilkunst besteht darin, so viel nichts wie möglich zu tun.
Immer wieder treffen wir auf Patienten im fortgeschrittenen Alter, die sich in einem passablen, guten oder sogar sehr guten Allgemeinzustand befinden, aber ernsthaft erkrankt sind. Beispielsweise leiden sie an einer fortgeschrittenen Krebserkrankung. Der erste Reflex ist dann häufig, ihnen die Maximaltherapie anzubieten, angefangen von einer Radikaloperation bis hin zur Polychemotherapie. Aber nicht immer ist dies aus meiner Sicht auch wirklich sinnvoll.
Nicht alle stecken Komplikationen gleich gut weg
Keine Frage, wenn alles glatt verläuft, kann auch ein ansonsten fitter 80-Jähriger zum Beispiel eine medizinisch indizierte Zystektomie gut überstehen und so das bestmögliche onkologische Outcome erwarten. Probleme gibt es meistens erst dann, wenn Komplikationen wie Wundheilungsstörungen, Infektionen oder Blutungen mit einem entsprechend protrahierten Verlauf auftreten. In solchen Fällen habe ich es immer wieder erlebt, dass solche Patienten das Krankenhaus als Pflegefall verlassen haben oder sogar gestorben sind, während sich ein jüngerer Patient in der gleichen Situation letztlich wieder erholt hätte.
The Long and Winding Road
Ein jüngerer Mensch hat meiner klinischen Erfahrung nach einfach bessere Kompensationsmöglichkeiten und körperliche Reserven als ein alter. Ich versuche gerne, meinen PJ-Studenten dies anhand einer Metapher zu verdeutlichen:
Wenn wir jung sind, ist das Leben wie eine breite Straße, in deren Mitte wir gehen. Rechts und links dieser Straße geht es tief bergab, doch der Hang fällt nur sanft ab. Wenn uns etwas umstößt, bleiben wir trotzdem auf der Straße und können wieder aufstehen und weiterlaufen. Und selbst wenn wir den Abhang ein Stück weit oder sogar ganz hinunterfallen, können wir uns aufrappeln und relativ leicht auf die Straße zurückklettern.
Es wird eng und steil
Mit zunehmendem Alter wird die Straße des Lebens jedoch immer schmäler und der Abhang immer steiler, bis wir irgendwann auf einem schmalen Grat wandern, auf dem es an beiden Seiten senkrecht nach unten geht. Stößt uns jetzt etwas um, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir abstürzen und nicht mehr nach oben gelangen, hoch. Solange wir auf der Straße bleiben, ist alles in Ordnung, aber wehe wir fallen herunter.
Weniger ist daher manchmal mehr. Darüber sollte man sich als Arzt im Klaren sein.
Leseempfehlung: Samuel Shem, The House of God (1978).