Viel Lärm und viel Trara um einen Fall, der ohne Frage tragisch ist – der eigentliche Skandal jedoch war die schlechte Berichterstattung und mangelnde Betreuung der Eltern.
Seit Januar haben sich das britische Gericht, sämtliche Boulevard-Blätter, Donald Trump und der Papst mit der Krankheit von Charlie Gard befasst. Der zentrale Streit: Die behandelnden Ärzte eines schwer kranken Kindes wollen lebenserhaltende Maßnahmen einstellen, die Eltern aber nicht.
Die sich in diesem Zusammenhang ergebenden Fragen: Wer sitzt hier am längeren Hebel? Eltern oder Ärzte? Das Gericht oder die mediale Öffentlichkeit? Ist die allerkleinste hypothetische Mini-Möglichkeit auf eine potenzielle Symptom-Minderung Argument genug, ein schwer krankes Kind am Leben zu halten? Die Alternative Tod ist schließlich endgültig.
Worum geht es genau?
In den Zeitungen stehen die unterschiedlichsten Versionen zu Charlies Patientengeschichte. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gibt jedoch eine genaue und detaillierte Beschreibung des Falls:
Am 4. August 2016 geboren, erschien Charlie zunächst gesund. Während des ersten Monats beobachtete der Kinderarzt jedoch Auffälligkeiten. Mangelnde Gewichtszunahme, motorische Defizite und eine zunehmend lethargische und flache Atmung veranlassten ihn, Charlie an das Great Ormond Street Hospital (GOSH) in London zu überweisen. Die Ärzte stellten fest, dass Charlie mit dem „enzephalomyopathisches mitochondriales DNA-Depletionssyndrom“ (MDDS) geboren wurde.
Das ist eine angeborene Mitochondriopathie, für die eine Mutation auf dem Gen RRM2B verantwortlich ist. Der Mangel an funktionsfähigen Mitochondrien führt insbesondere in Geweben mit hohem Energiebedarf zum Zelltod – in Charlies Fall verstärkt in der Gehirn- und Skelettmuskulatur. Draus resultierten eine schwere Epilepsie, kongenitale Taubheit und Atemprobleme. Mit der Zeit konnte er weder Extremitäten bewegen, noch willentlich die Augen öffnen.
Im Januar dieses Jahres hörten die Eltern von einer experimentellen „Nukleosid-Therapie“-Studie für eine ähnliche, jedoch weniger schwerwiegende „TK2“-Mitochondriopathie. Erste Ergebnisse dieser Studie lassen vermuten, dass eine Behandlung mit Nukleosiden bei TK2-Mutations-Patienten zu einer leichten Verbesserung der Symptomatik führen könnte.
Kurz darauf stellte das GOSH deshalb einen Antrag, Charlie für diese Nukleosid-Therapie zuzulassen. Dies bedurfte einer Genehmigung der Ethikkommission, da die Therapie bei Mutationen am RRM2B-Gen bisher weder an Menschen noch an Tieren untersucht wurde. Eine Woche später – noch während der Antrag geprüft wurde – stellte sich bei Charlie jedoch ein Status epilepticus ein, der 16 Tage lang anhielt. Die Anfälle schädigten das Gehirn massiv, man diagnostizierte anschließend eine hypoxisch-ischämische Enzephalopathie.
Die Ärzte bewerteten die Situation erneut. Von der Nukleosid-Therapie hatten sie sich im besten Fall eine Verminderung der Muskelschwäche und damit eine verminderte Abhängigkeit von der Beatmungsmaschine versprochen. Den Schaden des Gehirns bewerteten sie jedoch selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass Nukleoside die Blut-Hirn-Schranke passierten, als irreversibel. Ohne eine Option für Besserung sei es somit nicht vertretbar, Charlies Leiden weiter zu verlängern und ihn mit dem Beatmungsgerät am Leben zu halten.
Ein Rechtsstreit entbrennt
Die Eltern bestehen jedoch auf die Möglichkeit, mit Charlie in die USA zu fliegen und die Therapie zumindest zu versuchen. Zur Finanzierung sammelten sie per Crowdfunding insgesamt 1,4 Mio Dollar Spenden.
Die Ärzte des GOSH ziehen daraufhin vor Gericht. Der Richter gibt ihnen Recht, die Eltern gehen in Berufung. Nach dem Schema wandert der Fall Charlie monatelang von Instanz zu Instanz. Die Richter der verschiedenen Instanzen bleiben sich einig, weshalb sich ein Teil der Bevölkerung zunehmend dazu berufen fühlt, vermeintlich für Charlie Partei ergreifen zu müssen. An den Gerichtstagen versammeln sich Demonstranten vor den Gerichtsgebäuden, das Klinikpersonal erhält Drohungen, die Medien berichten. Am Ende bestärkt auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Einschätzung des GOSH, am 27.07.2017 werden die Geräte tatsächlich abgestellt.
Woher kam die Welle?
Ich kann mir gut vorstellen, wie und warum sich Eltern in so einem Fall an jeden Strohhalm klammern. Sicher erscheint ihnen alles besser als die radikale und endgültige Alternative: Maschinen aus, Kind tot. Trotzdem frage ich mich, wie der (medizinisch doch recht eindeutige) Fall solche Ausmaße annehmen konnte.
Was hat die Medien dazu bewegt, den Fall so aufzuspielen? Der mediale Massenhype um das Thema reitet auf der Tragik herum, spielt Charlies aussichtslosen Zustand herunter und bauscht die Chance auf Heilung auf. Hätte sich der Rechtsstreit derart in die Länge gezogen, wenn die Eltern durch unseriöse Berichterstattung nicht so viel Zuspruch bekommen hätten?
Wie kamen die Eltern zu dem Schluss, Fachärzte, Juristen und Experten hätten sich gegen sie verschworen und würden nicht in Charlies Interesse handeln? Warum haben die Eltern nicht verstanden (oder warum konnte ihnen nicht klargemacht werden), dass eine Entscheidung für den Tod keine Entscheidung gegen Charlie ist?
Lag es am Verständnis?
Aus der Ferne ist es anmaßend, über Kommunikationsfehler zu spekulieren. Aber die Posts und die Bilder der Facebook-Seite „Charlie Gard #charliesfight“ hinterlassen mich ratlos.
Sie zeigen so deutlich, was für absurde Erfolge sich die Eltern von der die Nukleosid-Therapie versprachen. Hat man ihnen nicht verständlich genug erklärt, wie es um Charlie steht? Wie unterschiedlich die verschiedenen Formen der Gendefekte sind? Hätte man den Rechtsstreit (und eventuell auch Charlies Leidensweg) abkürzen können, indem man sich noch mehr Zeit genommen hätte, ihnen den Sachverhalt vollständig verständlich zu machen? Wollten die Eltern es eventuell nur nicht verstehen? Wurden (und werden) sie psychologisch betreut? Wurde ihnen das von ärztlicher Seite nahegelegt?
„In den USA versuchen sie alles, wenn das Geld stimmt“
Nicht hilfreich waren zudem die zwei Ärzte, auf deren Behandlungsbereitschaft sich die Eltern bis zum Schluss beriefen. Jener amerikanische „Dr. I“ bot bis zum Ende an, Charlie zu behandeln – vorausgesetzt man bringe ihn in die USA. Vor Gericht kommentierte dies eine britische Professorin:
„Me and Dr. I did not really differ on science and we both agree that, very sadly, it is extremely unlikely to help Charlie. In my view there is a cultural difference in philosophy between treatment in the United States and in the United Kingdom. We try to have the child in centre of our actions whereas in the United States, provided there is funding, they will try everything.“
Dass sich in so ein Dilemma dann noch der Präsident der Vereinigten Staaten einmischt, indem er twittert „If we can help little #CharlieGard, as per our friends in the U.K. and the Pope, we would be delighted to do so.“ ist absurd. Spätestens wenn Donald Trump einem zustimmt, muss man die eigene Position überdenken.
Das ist ein unangemessenes Schlusswort für einen Artikel über ein so trauriges Thema, über das aber eh schon zu viel gesagt wurde.