Eine neue Studie zu einem bisher vernachlässigten Gesundheitsrisiko durch Adipositas gibt mir Gelegenheit, das Thema Übergewicht aus meiner Sicht zu kommentieren.
Eine aktuelle Studie, die im Journal Cancer Research veröffentlicht wurde, hat die Zusammenhänge von Übergewicht und Leberkrebs untersucht. Anhand der Parameter BMI, Hüftumfang und Typ-2-Diabetes wurden Untersuchungen an mehr als 1,5 Mio. Amerikanern ausgewertet. Ausgangslage für die Studie war die Tatsache, dass sich seit Mitte der 1970er Jahre die Fälle von Leberkrebs verdreifacht hatten und das Thema Adipositas ebenfalls in großem Umfang zugenommen hatte.
Die Ergebnisse der aktuellen Meta-Studie waren eindeutig: Je nach Ausmaß des Übergewichts bestand ein 23–81 Prozent erhöhte Risiko, an Leberkrebs zu erkranken. Damit hat sich zu den mit Adipositas assoziierten Erkrankungen eine weitere gesellt, noch dazu eine mit nicht so guter Prognose.
Krankheiten im Zusammenhang mit Adipositas
Für mich ist das Anlass, auf ein Problem hinzuweisen, das gerade in den sozialen Medien häufig anzutreffen ist. Bevor ich das tue, zunächst aber noch einmal eine Liste der Erkrankungen bzw. Störungen, die mit Übergewicht assoziiert sind. Es ist sicherlich eine unvollständige Auswahl eher nicht so schwerer, weil nicht unbedingt lebensbedrohlicher Störungen:
In Wahrheit sind es noch viel mehr körperliche Malaisen, die den Adipösen bedrohen. In meinem Fachgebiet fallen natürlich besonders psychische Probleme auf: Mangelndes Selbstwertgefühl, psychische Hemmung, Depressionen und Angststörungen.
Wer übergewichtig ist, wird häufig gemobbt
Ein Problem ist sicherlich die Diskriminierung dicker Menschen. Von Ausgrenzung im sozialen Kontext bis hin zu Mobbing in der Schule und am Arbeitsplatz reicht die Spannbreite des schikanösen Umgangs mit Übergewichtigen. Dabei spielt die Annahme, Übergewicht sei in allen Fällen eine Folge mangelnder Disziplin („soll sie/ er halt weniger essen“) eine wichtige Rolle. Dass dies in vielen Fällen Unsinn ist, soll hier erwähnt, aber nicht diskutiert werden.
In meiner Praxis kommt das Thema Adipositas auch häufig vor. Da wäre zum Beispiel Sandra, eine junge Frau in der Lehre, die von Beginn an von ihren Kolleginnen in der neuen Stelle wegen ihres Übergewichts ausgrgrenzt wird. Sie kichern über sie und machen Bemerkungen. Zu privaten Treffen wird sie nie eingeladen. Sie findet Prospekte über Appetitzügler an ihrem Arbeitsplatz. Als die Stimmung gegen sie immer offener feindselig wird, muss Sandra krankgeschrieben werden. An diesen Ausbildungsplatz wird sie nicht mehr zurückkehren.
Besonders Frauen leiden unter Fatshaming
Oder Marion, die unter erheblicher Adipositas leidet. Sie hat mehrere ambulante und stationäre Psychotherapien absolviert. Offenbar liegt bei ihr eine Mischung aus familiär bedingter Fettstoffwechselstörung und einer binge-eating-Essstörung vor. Letztlich stellt sich jetzt die Frage, ob eine operative Magenverkleinerung durchgeführt werden soll. Die Krankenkasse will dazu ein ausführliches fachärztliches Attest haben. Es wird noch ein langer Weg für Marion werden.
Es ist kein Zufall, dass mir gerade die beiden Frauen in den Sinn kommen. Wir sehen in unserer Praxis deutlich mehr Frauen, bei denen das Übergewicht zum psychiatrisch relevanten Thema wird und das, obwohl Männer in Deutschland häufiger zu Übergewicht neigen als Frauen.
Eine wenig sinnvolle Gegenbewegung
Nun komme ich zum eigentlichen Problem: Aus dieser Diskriminierung heraus entwickelte sich eine Art Gegenbewegung, die vor allem in den sozialen Medien lebt. Aus der verständlichen und nachvollziehbaren Reaktion „Keine Diskriminierung Adipöser!“ bildeten sich geradezu kuriose und wenig hilfreiche Strömungen. Als Beispiel sei exemplarisch ein Post der Mädchenmannschaft genannt:
Screenshot von maedchenmannschaft.net
Das Problem scheint mir zu sein, dass die Argumentation in einer Weise verläuft, bei der die Trennschärfe auf der Strecke bleibt. Natürlich soll niemand wegen seines Gewichts oder seines Aussehens diskriminiert werden.
Adipositas ist kein politisches Statement
Auf der anderen Seite macht es in meinen Augen keinen Sinn, Adipositas als „politisches Statement“ zu sehen und „stolz“ auf seine überflüssigen Pfunde zu sein. Es ist genau diese Art argumentativer Engführung, die vielen so große Probleme zu bereiten scheint. Dass niemand wegen seines Gewichtes benachteiligt werden soll, heißt nicht, dass Übergewicht erstrebenswert ist.
Dass jemand mit Adipositas nicht den Kopf einzieht, sondern sich selbstbewusst und lebensfroh verhält, heißt nicht, dass sie oder er deshalb weniger Risiko für zum Beispiel Leberkrebs hat. Wie so oft bringt es nichts, sich in die eigene Tasche zu lügen und als jemand, der sowohl sehr viel mit Diskriminierung als auch mit medizinischen Folgen von Adipositas zu tun hat, kann ich nur sagen:
Macht es euch nicht so einfach!
Zu wenig Adipositas in der Medizin
Wer übergewichtig ist, soll sich selbstbewusst durchsetzen gegen jede Form der Diskriminierung, soll sich aber nicht für politische Statements instrumentalisieren lassen und sich im Klaren darüber sein, dass er in einer großen gesundheitlichen Gefahr schwebt. Diese lässt sich nicht dadurch vermindern, dass ich gegen „fatshaming“ und „Lookismus“ protestiere. Und bewusst adipös zu sein, weil man sich nicht durch von der Gesellschaft festgelegte Schönheitsideale bestimmen lassen will, ergibt medizinisch gesehen wenig Sinn.
Meiner Einschätzung nach ist die Adipositas als eigenständige Thematik noch nicht ausreichend in der Medizin (und der Psychiatrie/ Psychotherapie) angekommen. Obwohl sie als Risikofaktor für viele Folgeerkrankungen längst bekannt ist, so gibt es wesentlich mehr Behandlungskonzepte für beispielsweise Anorexie oder Bulimie als für Adipositas. Und ebenso wie die Tabakwerbung dazu angehalten ist, auf die Folgen von Nikotinkonsum in teils drastischer Weise hinzuweisen, so würde ich mir bei allen Verherrlichungen von zum Beispiel plus-size-Models einen Warnhinweis auf die gesundheitlichen Folgen von Adipositas wünschen.
Zuerst veröffentlicht auf www.DEIKS.de