Wie ein Arzt behandelt, wird genau protokolliert. Geht etwas schief, sind Patienten mehr denn je bereit, vor Gericht zu ziehen. Kein Wunder, dass Ärzte sich mehrfach absichern. Manche übertreiben es allerdings mit Untersuchungen und Überweisungen.
Wann immer ich mich gegen die Homöopathie positioniere, wird die Frage gestellt, ob ich denn nicht auch mal kritisch auf die Medizin schauen könnte. In meinem (Achtung Werbung!) neuen Buch geht es um Dinge wie beispielsweise die Unterstellung, dass ich vom Pharma-Geld zu geblendet wäre, um ein schlechtes Wort über die Medizin zu verlieren.
Aber da es noch ein bisschen dauert, bis es herauskommt, möchte ich mich heute hier ein wenig mit dem Problem der Medizin befassen. Und zwar mit einem speziellen Teilproblem: der defensiven Medizin.
Ärztliche allgemeine Verunsicherung
Getrieben von der Angst, Fehler zu machen und falsche Entscheidungen zu treffen, neigen mehr und mehr Ärzte dazu (in den USA ist das noch viel schlimmer), noch eine Untersuchung, noch ein CT, noch ein Röntgenbild, noch eine Expertenmeinung zu empfehlen – zur Absicherung. Damit bringen sie einerseits die Patienten um eine gute Behandlung und verursachen zudem steigende Kosten im Gesundheitswesen, die wir alle tragen müssen.
Woher kommt diese Strömung? Die ärztliche Behandlung soll in erster Linie zu Verbesserungen des Gesundheitszustandes unserer Patienten führen und im besten Fall zur Verlängerung ihres Lebens. Doch jede auch noch so sorgfältige und leitliniengerechte medizinische Behandlung ist mit Risiken verbunden. Die Nebenwirkungen ärztlicher Behandlung zählen zu den häufigen Ursachen für Beschwerden und sogar zu den häufigen Todesursachen.
Man kann es nur falsch machen
Ärzte unterliegen heute vielfacher Kontrolle und die Klagebereitschaft von Patienten nimmt zu. Dazu kommt die Budgetierung, die zur privaten Haftung des Arztes für die Ausgaben für die von ihm verschriebenen Medikamente führt. Angst vor dem Regress, vor Kunstfehlerprozessen und vor dem Scheitern sowie davor, unrealistische Erwartungen von Patienten nicht erfüllen zu können, führen zu defensivem Verhalten seitens der Ärzte. Negative Medienberichte über falsche Behandlungen prägen zunehmend das Bild der Medizin und das ärztliche Denken. Bürokratische Dokumentationsvorschriften, Qualitätsmanagement, Weiterbildungsvorschriften, Leitlinien und genereller Kostendruck führen zu einer zunehmenden Regulierung und Einengung ärztlichen Handelns.
Der Arzt kann es also eigentlich nur falsch machen. Und sichert sich ab – indem er weitere Untersuchungen einholt, die eigentlich nicht nötig wären und indem er keine Entscheidungen trifft. Das Einholen weiterer Untersuchungen spart zudem vermeintlich Zeit – man muss nur eine Überweisung ausstellen. Der Patient, der dies oft nicht überblicken kann, steht im schlimmsten Fall am Ende mit einer dick gefüllten Befundmappe, drei Zusatzbefunden, die ihm eigentlich keine Beschwerden machen (die aber auch weiter abgeklärt werden können) und einem irgendwie ratlosen oder nicht erreichbaren Arzt da. Toll.
Was man sich von Alternativmedizinern abschauen kann
Aus meiner Homöopathie-Zeit erinnere ich mich dann an die langen Anamnese-Gespräche, die es mir ermöglichten, mit dem Patienten gemeinsam abzuklopfen, worin das Problem besteht und wie eine gemeinsam gut gangbare Lösung aussehen könnte. Manchmal sind die Rückenschmerzen mit Yoga-Übungen zu behandeln und erfordern kein drittes Re-CT. Beim chronischen Husten ohne pyhsiologisches Korrelat hilft Zuspruch, Thymian-Tee und gemeinsames Durchhalten eventuell besser als eine vorschnelle Bronchoskopie oder Medikamente mit möglichen Nebenwirkungen. Bei Infektanfälligkeit können eine Ernährungsumstellung und ein Sportprogramm eher hilfreich sein als zig Blutuntersuchungen. Und manchmal erledigen sich die Beschwerden, nachdem man sich einmal darüber ausgesprochen hat, auch von alleine.
Nur über die Alternativmedizin abzulästern und sie abschaffen zu wollen, ist die eine Sache, für eine menschlichere, gute medizinische Versorgung im Alltag zu sorgen, die andere. Als Homöopathin konnte ich meinen Patienten Zeit schenken, ich konnte in Gesprächen Ängste nehmen, Diagnosen erklären, in Ruhe verschiedene Therapiemöglichkeiten aufzeigen, beraten und begleiten oder erarbeiten, welche Möglichkeiten ein Patient selbst hat.
Lässt man das Globuli-Verschreiben weg, dann sind diese Punkte wertvoll, solange sie sich am modernen medizinischen Kenntnisstand orientieren. Leider ist mir heute bewusst, dass hier leichtes Spiel für alle möglichen Ideologien oder patriarchalisches Gurutum besteht. Deshalb wäre es umso wichtiger, dass normale Hausärzte diese Gespräche wieder leisten können, wieder bezahlt bekommen und ihren Patienten anbieten können. Bevor diese sich anderswo Hilfe suchen. Und bevor unnötige Untersuchungen für Verwirrung statt für Aufklärung sorgen und uns alle Geld kosten.
Die Medizin ist krank – und die Homöopathie ihr Symptom
Das ist vielleicht mein größter Kritikpunkt an der normalen Medizin: Sie mag über großes Wissen und über Wissenschaftlichkeit verfügen, aber sie kommt damit beim Patienten, beim Menschen in Not, nicht wirklich an. „Schulmedizin“ wird sie genannt – abfällig und abwertend. Darüber kann man sich aufregen. Man kann darin aber auch einen Anlass sehen, sich an die eigene Nase zu fassen. Was bieten wir unseren Patienten in der normalen Medizin? Wissen. Studien. Wirksamkeit. Evidenz. Mehr Untersuchungen und gute Medikamente.
Aber bieten wir ihnen auch die menschliche Behandlung, nach der sie sich sehnen? Ich meine, leider viel zu selten. Und damit macht die normale Medizin sich schuldig. Nicht in einem moralischen Sinne, aber in einem verursachenden. Sie ist selbst mit schuld daran, dass ihre Patienten sich überhaupt nach einer Alternative umsehen. Nach einer Alternative, bei der sie in Kauf nehmen, dass nicht gute Diagnostik und Wirksamkeit an erster Stelle stehen, sondern (vermeintlich) menschliche Zuwendung.
Die Medizin ist nicht nur in dieser Hinsicht krank – und die Homöopathie ihr Symptom. „Heilen“ (verbessern) wir die Medizin, brauchen wir die Homöopathie nicht mehr. Und auch keine überdefensive Medizin. So einfach ist das ;-)