Meine Pläne für heute haben zum ersten Mal absolut nichts mit Medizin zu tun. Ich möchte einfach nur ein Buch lesen, zur Ruhe kommen und mich auf mein Leben als Mutter vorbereiten. Das beschließe ich, während ich im Auto auf dem Weg nachhause sitze. Und dann passiert alles in Zeitlupe.
Heute denke ich keine einzige Sekunde an meine Arbeit. Das erste Mal. Die letzten Wochen vor der Entbindung stehen ganz im Sinne der Entspannung und Vorbereitung. Kinderzimmer, Hosen, Bodys, Mützen, Babyschale, Babybett, Kliniktasche etc. Die Liste ist lang. Das Vorbereiten kostet Zeit.
Einfach nur ein Buch lesen
So langsam ist alles mühsam und der dicke Bauch ist im Weg. Die Beine sind schwer. Lange wird es nicht mehr dauern, bis ich keine Lust mehr habe. Das ist sicherlich gut so. Reichlich Motivation für die Geburt. Aber heute Mittag darf ich tatsächlich die Beine hoch legen und einfach nur ein Buch lesen. Kein Artikel, kein Journal, keine wissenschaftliche Arbeit, kein Buch der Zugangswege oder OP-Methode. Einen ganz normalen Roman. Ich weiß nicht, wie lange das her ist. Eine Ewigkeit. Ich freue mich darauf.
Alles in Zeitlupe
Noch aber stehe ich mit meinem Auto an der roten Ampel und warte auf Grün. Ich sinniere über die Entdeckung der Langeweile und Kreativität, als der Kleinwagen zwei Autos vor mir über Rot fährt. Zeitlupe. Der Lastwagen von links rammt das Auto platt.
Klick. Mein Kopf schaltet um. Adrenalin. Telefon, Rettungsdienst, Polizei. Bis auf die obligatorische Auto-Verbandtasche habe ich nichts dabei. Ich nehme die Handschuhe.
Die Beifahrerin kann sprechen, sich abschnallen und aussteigen. A,B,C ist ok. Naja, sie spricht, atmet und ist bei Bewusstsein. Der Kopf hat Schrammen, die Nase blutet, die Unterarme sind geschürft. Kann Gehen. Das reicht fürs Erste. Ich lege sie ins Gras. Zwei weitere Ersthelfer bleiben bei ihr.
Eingeklemmt
Der Fahrer ist bei Bewusstsein. Er ist eingeklemmt, das Auto ist ein Blechhaufen, überall Scherben. Über die Beifahrertür gelangt man ein kleines Stück zu ihm. Der Rest ist nicht zugänglich. Airbags. Angeschnallt. Er sieht mich, er atmet. Der linke Unterarm und die linke Hand ist mehrfach offen frakturiert. Nase kaputt. Schürfwunden, Glassplitter im Gesicht. Die Beine sehe ich nicht. Er kann seinen Namen sagen.
Er stöhnt, Schmerzen. Raus kommt er da nicht. Ich möchte so viel tun. In meinem Kopf läuft der Hamster das komplette Diagnostik- und Therapierad ab, immer wieder. Bringt nichts. Was mir bleibt, ist, ihn zu beruhigen. „Wir holen Sie hier raus. Wie heißen Sie?“
Die nächsten 20 Minuten sind eine gefühlte Ewigkeit. Immer wieder scheint er kurz abzudriften, dann antwortet er wieder. „Tochter ok?“ „Ja. Wo haben Sie Schmerzen?“ „Kopf. Arm. Brust.“ „Tochter ok?“ „Ja. Können Sie gut atmen?“ „Ich … Tochter ok?“ „Ja. Wie heißen Sie?“ „Ich … Tochter? Wo ist meine Tochter?“
Ich verlasse die Unfallstelle, als der Notarzt die Infusionsnadel in der Vene hat. Die Feuerwehr sägt einen Wagen verdammt schnell auf.
Draußen ist nicht drinnen. Draußen ist anders. Danke an alle, die den Job da draußen machen!