Vor mir sitzt mal wieder Patientin Jarin. Heute ist sie die „Treppe hinunter gefallen“. An einem anderen Tag ist sie gegen die Tür geprallt. Oder hat einen schweren Koffer in den Unterbauch bekommen. Sie hat sich die Finger eingeklemmt oder die Rippen schmerzen. Die Liste geht unendlich lang weiter.
Sie erzählt eigentlich nie die Wahrheit. Nur dann, wenn sie mit der Polizei kommt, mit ihrem Sohn oder der Freundin. Wenn ihr Ehemann mal wieder zugeschlagen hat. Oder den Gürtel genommen hat. Ihr die Finger zerquetscht oder den Fuß in den Unterbauch gerammt hat.
Heute hat sie Würgemale am Hals, sie spricht heiser. Rippenbogen und der Unterbauch schmerzen. Definitiv kein Treppensturz. Ich untersuche sie von Kopf bis Fuß. Jede Verletzung wird ausgiebig beschrieben, dokumentiert, fotografiert. Ihre Freundin kommt hinzu und übersetzt, schildert mir die entsetzlichen Hergänge der Verletzungen.
Frau Jarin wurde eingesperrt und gewürgt
Der Mann hat die Frau eingesperrt, sie mit der Hand gewürgt und festgehalten, während er mit der anderen Faust auf sie eingeprügelt hat. Zum Schluss hat er sie mit Fuß in die Rippen- und Unterbauchgegend getreten. Der Sohn hat die Freundin angerufen, um Hilfe zu holen. Der Mann ist nun in seiner Lieblingskneipe.
Zur Polizei gehen sie als Nächstes. Dutzende Anzeigen, bestimmt drei Aufenthalte im Frauenhaus. Ab und zu geht sie für ein paar Nächte zu ihrer Freundin. Danach geht es für sie zurück nach Hause. Jedes Mal. Bisher kam es nie zur Anklage. Die Anzeigen werden jedes Mal wieder zurückgezogen. Von ihr. Frau Jarin hat kein eigenes Geld. Sie spricht kaum deutsch, kann nicht schreiben, sie hat keine Familie, nur ihren Sohn und den saufenden, prügelnden Ehemann.
Keine inneren Verletzungen, aber dann ...
Als ich den Ultraschall auf ihren Bauch halte, sehe ich keine freie Flüssigkeit, die Leber, die Milz scheinen unversehrt. Im Uterus finde ich ein strampelndes Baby mit schlagendem Herz. Ich drehe ihr den Bildschirm zu und ziehe die Augenbrauen nach oben. Sie schüttelt erschrocken den Kopf: „Nein, nein, nicht. Muss weg. Kann nicht. Weg, weg.“ Ich rufe den Gynäkologen an. Dann veranlasse ich die weiteren Untersuchungen.
Als ich im Auto an diese Tag nach Hause fahre, kann ich nicht aufhören, zu weinen. Mein schwangerschafts- und hormonüberladener Körper erträgt das heute nicht anders.