Im Wartezimmer werde ich unfreiwillig Teil einer Unterhaltung über Wehen. Besser gesagt, erhalte ich Tipps, was man in der Zeit davor zu machen hat. Nebenbei lausche ich – auch eher unfreiwillig – den Gesprächen im Empfangsbereich. Die Privatsphäre gibt man hier an der Tür ab.
Das Wartezimmer ist überfüllt. Ich sitze hier seit einer Stunde. Plus CTG schreiben. Macht 1,5 Stunden. Frau Liebig, die neben mir sitzt, kenne ich seit 40 Minuten. Sie erzählt mir von ihren Kindern, den Enkelkindern und deren Geburten. Das sind einige. Nicht schön. Angsteinflößend.Dass aber heutzutage ja sowieso alles anders sei. Die Babys dürften im Zimmer der Mütter schlafen. Das sei schon schön. Aber dieses häufige Stillen. Überhaupt das mit dem Stillen. Das sei ja völlig übertrieben heutzutage. Sie sei übrigens da wegen ihrer häufigen Blasenentzündungen. Hämorrhoiden habe sie auch.
Jeder darf sich einmischen
Frau Kuhn auf der anderen Seite schaltet sich ein. Ja, das kenne sie. Sie habe da eine ganz tolle Salbe entdeckt. Ob sie diese nicht einmal ausprobieren möchte. Und einen prima Tee für die Blase. Ich komme mir vor wie in der Selbsthilfegruppe der Apotheken Umschau. Es wird getratscht, gelästert, empfohlen. Es wird bereitwillig jedes intime Detail präsentiert.
Ich erhalte Tipps für die besten Wehen auslösenden Säfte (Sekt), Gerichte (Spargel) und Tätigkeiten (Fenster putzen und Sex). Der Raum gleicht einem Stall schnatternder Gänse. Mit Türsteher. Denn die zahlreichen begleitenden Männer, Väter, Brüder, Übersetzer möchte ich nicht unbemerkt lassen.
Die Wartenden hören mit
Der Empfangsbereich ist direkt neben dem Wartezimmer. Jede Patientin, die kommt, wird gefragt, warum sie da ist. Milchstau, Ausfluss, Pillenrezept, Vorsorge, Vaginalpilz, Schmerzen in der Brust, Befundbesprechung, Blutabnahme, Schwangerschaftsvorsorge etc. Bei jeder Patientin, die den Raum betritt, kenne ich die Verdachtsdiagnose, noch bevor ich sie gesehen habe. Übrigens auch Adresse, Telefonnummer, Hausarzt und Geburtsdatum.
„Das muss weg.“
Als eine große, hübsche Frau Ende 30 den Raum betritt, wird es schlagartig still. Frau Liebig und Frau Kuhn versenken endlich ihre Blicke in die Illustrierten. Ihre Antwort auf die Frage der Sprechstundenhilfe, war: „Ich glaube ich bin schwanger, aber das muss weg.“
Diskretion? Privatsphäre? Fehlanzeige. Keine einzige Patientin hat in den zwei Stunden die Antwort verweigert.