Ob (neue) Medikamente bei schwersten bzw. zumeist tödlich verlaufenden Erkrankungen tatsächlich helfen und ob die Kassen diese Behandlung überhaupt übernehmen, ist die eine Frage. Nach der neuerlichen – beachtlich unbeachteten – Rechtsprechung des BSG vom 13.12.2016, B 1 KR 1/16 R stellt sich jetzt eine neue Frage.
Off-Label-Use: Der Status Quo
Es geht um die Anwendung von Medikamenten außerhalb ihres Zulassungsgebietes; dem sogenannten Off-Label-use. Medikamente und Arzneimittel konnten außerhalb ihrer Zulassung bis dato dann verabreicht werden, wenn es eine nicht weit entfernte Chance auf Heilung gab und dies im stationären Bereich angewandt wurde.
Dazu heißt es sogar im § 2 Abs. 1a Satz 1 SGB V:
„Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, können auch eine von Absatz 1 Satz 3 abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.“
Dies sollte im Gegensatz zum ambulanten Bereich durchführbar sein, da es eine Möglichkeit der Überwachung und des kurzfristigen Eingriffs in die Behandlung des Patienten aufgrund des krankenhausenspezifischen Versorgungssystems gibt.
Im ambulanten Bereich hingegen hatte das BSG bereits 2006 festgelegt, dass folgendes gegeben sein müsse: eine schwerwiegende – lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende – Erkrankung des betroffenen Patienten, keine anderweitige Therapiemöglichkeit und eine begründete Aussicht auf Behandlungserfolg (quasi Zulassungsreife).
Ambulant vs. stationär
Diese Unterscheidung vom ambulanten zum stationären Bereich wurde als sinnvoll erachtet, da hinsichtlich neuer Methoden im Krankenhaussektor eine generelle Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt gilt. Dies entspricht dem Grundsatz des Off-Label-Use, die Anpassung an den sich mit hoher Geschwindigkeit entwickelten medizinischen Fortschritt und die Partizipationsmöglichkeit der Versicherten an innovativen Behandlungsmethoden zu sichern.
Das BSG hat diesem Verfahren einen Riegel vorgeschoben. Es hat festgestellt, dass für den stationären Bereich die gleichen Voraussetzungen gelten sollen wie für den ambulanten Bereich. Grundsätzlich ist dies nachvollziehbar, sollen doch nach dem BSG die Grundsätze des Arzneimittelrechts nicht durch eine bloße stationäre Behandlung umgangen werden.
Allerdings werden hierdurch – und das im erheblichen Maße – Patienten, die nach Ausschöpfung aller möglichen Varianten nicht weiter behandelt werden können bzw. nicht im zulassungseingeschränkten Bereich, aus dem Raster fallen. Alle Patienten, die beispielsweise Medikamente zulassungsüberschreitend erhalten und nicht an einer schwerwiegenden bzw. tödlichen Erkrankungserkrankung leiden, werden diese Behandlung, die bis dato üblich war, nicht mehr erhalten.
Diese Erkrankungen sind auch nicht weit her geholt, dazu gehören beispielsweise Lupus-Patienten, Kleinstkinder mit Hämangiomen, Patienten mit überaktiver Blase, Patienten mit multipler Sklerose usw.
Keine Medikamente ohne Phase-III-Studie
Darüber hinaus ist fraglich, ob die Patienten, die an einer solchen schwersten bzw. zumeist tödlich verlaufenden Erkrankung leiden, tatsächlich die Behandlung weiterhin erhalten. Beispielsweise werden hier Patienten, die bereits austherapiert sind und nach einer entsprechenden Studienlage Medikamente erhalten, welche für einen „anderen“ Krebs zugelassen ist, nicht mehr diese spezifischen Medikamente erhalten, sofern keine Phase-III-Studie vorliegt. Diese Fälle mehren sich und es wird dazu führen, dass entweder die behandelnden Ärzte dennoch die Behandlung durchführen und dies nicht mehr vergütet bekommen, oder die betroffenen Patienten eine solche Behandlung gar nicht mehr erfahren werden.
Zum Wohle der Volksgesundheit?
Schlussendlich stellt sich diese Sachlage für uns so dar, dass das BSG zwar mit vermeintlich nachvollziehbaren Argumenten eine Umgehung von arzneimittelrechtlichen Vorgaben verhindern möchte – zum Wohle der Volksgesundheit. Allerdings wird hierbei missachtet, dass es sich bei der Off-Label-Use-Konstruktion um Sachverhalte, um Krankheitsbilder und im Endeffekt um Patienten handelt, für die eine individuelle Therapie nicht zur Verfügung steht und bei denen eine aufgrund von Erfahrungswerten und der Studienlage (enstprechend nicht Phase III) eine Behandlung sinnvoll erscheint.
Insofern umgeht das BSG hier die Verpflichtung der Ärzteschaft, aufgrund von Erfahrung und Lehre, allgemein formuliert den Grundsätzen der Medizin, Heilung herbeizuführen. Vielmehr stellt das BSG hier im übertragenen Sinne darauf ab, dass ein schwerster Krankheitsweg bzw. das Sterben des Patienten nach Durchführung aller zugelassenen Therapien vertretbarer sind, als der Versuch, auch mit einem nicht für die spezifische Erkrankung zugelassenen Medikament Heilung bzw. Linderung zu ermöglichen.
Nur noch das Notwendigste
Insbesondere ist dies zweifelhaft, da es hier auch um solche Patienten geht, die beispielsweise an einer schwersten Erkrankung wie Multiple Sklerose leiden und denen durch die Standardtherapie nach den Erfahrungen der Ärzte nicht gleichwertig bzw. entsprechend gut geholfen werden kann wie mit der Off-Label-Use-Therapie. Es geht auch um Patienten, die aufgrund eines Hämangioms im frühkindlichen Alter bereits schwerst gezeichnet sind und an denen zunächst die Standardtherapien bis hin zum invasiven Eingriff durchgeführt werden muss. In solchen Fällen ist eine alternative Therapie nach der derzeitigen BSG-Rechtsprechung unmöglich bzw. ohne Vergütungsanspruch.
Nach meiner Meinung geht das BSG immer mehr dazu über, lediglich das absolut zwingend Notwendige für Patienten zu vergüten und dementsprechend zuzulassen, und mischt sich dadurch in die Therapiefreiheit der behandelnden Ärzte zu weit ein. Meines Erachtens kann es nicht sein, dass die Therapiefreiheit von Ärzten derart eingeschränkt wird, dass sie sich lediglich darauf zu beschränken haben, was absoluter Mindeststandard ist.
Erschreckenderweise ist auch in der Kollegenschafft dieses Urteil erst nach und nach angekommen, in der Hinsicht, dass wir mittlerweile ablehnende Urteile und Beschlüsse von den erstinstanzlichen Gerichten erhalten – mit dem Hinweis, dass ein Off-Label-Use im stationären Bereich an den gleichen Voraussetzungen zu messen ist wie im ambulanten Bereich.
Diese Welle ist kein Tsunami, allerdings kann die Entscheidung des BSG für manche Patienten ebenso viel Zerstörung anrichten wie eine Flutwelle.