Eine Pflegekraft wird des Mordes verdächtigt. Ein psychisch auffälliger stadtbekannter Wichtigtuer hat sie angezeigt. Die Verdächtigung ist haltlos, dennoch ist es für die Betroffene ein schwerer Schlag.
Schwester Paula weint. Das hat’s noch nie gegeben: Sonst führt Schwester Paula selbstbewusst und aufrecht das Regiment auf Station. Nichts, rein gar nichts kann sie erschüttern, die schwierigsten Patienten nicht, die furchtbarsten Krankheiten schon gar nicht und auch der unerwartete Ausfall einer Mitarbeiterin nicht. Jetzt aber ist sie völlig in sich zusammengesunken und hat den Kopf auf der Tischplatte in den Armen verborgen.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragt Kalle vorsichtig.
Schwester Paula hebt den Kopf und schnieft. Kalle holt einen Becher aus dem Schrank, füllt ihn mit Krankenhauskaffeeplörre und stellt ihn vor Schwester Paula auf den Tisch.
„Alles in Ordnung?“
Herrn Drölsbüttel ist gestern Verstorben
Ganz bestimmt nicht! Es muss schon eine Menge passieren, dass Schwester Paula dermaßen aus dem Gleichgericht gerät.
Kalle setzt sich zu ihr und nimmt sich auch eine Tasse. „Wollen Sie mir erzählen, worum es geht?“
Sie setzt sich auf und nimmt die Tasse in die Hand. „Herr Drolsbüttel!“, schnieft sie.
Der ist gestern Abend gestorben.
„Kannten Sie ihn?“
Schwester Paula nickt.
„Ich wollte ihm doch helfen ...“
„Das muss schwer für Sie sein ... War er ein guter Bekannter?“
Herr Drolsbüttel war siebenundachtzig Jahre alt. Im Laufe des letzten Jahres hat er ziemlich abgebaut. Es begann mit einem Sturz und einer Schenkelhalsfraktur. Seither war er mehrmals bei uns, immer nur für wenige Tage, ohne dass wir eine richtige Diagnose finden konnten. Oder anders ausgedrückt: Es gab zahllose Diagnosen und nach jedem Aufenthalt wurden es ein paar mehr. Dahingerafft hat ihn letztendlich eine Lungenentzündung. Immerhin hat er ein gutes Alter erreicht und man kann hoffen, dass er ein erfülltes Leben gehabt hat.
Schwester Paula und ein Mord
„Darum geht es nicht ...“, schluchzt Schwester Paula.
„Sondern?“
„Ich soll ihn umgebracht haben!“
Kalle fällt vor Schreck fast die Tasse aus der Hand: „Nein!“
Schwester Paula ist die Gründlichkeit in Person. Ihre Art mag manchmal ein bisschen ruppig sein, aber einen Mord würde ihr ganz bestimmt niemand zutrauen.
„Er wohnt ... Er wohnte bei uns in der Nachbarschaft“, berichtet Schwester Paula, „ich war ein paar Male bei ihm, um nach ihm zu schauen, seine Tabletten zu richten und so. Was man halt macht als Nachbarin. Dann gibt es da einen Neffen, der wohnt gleich um die Ecke. Der war heute früh bei der Polizei und hat mich angezeigt.“
„Was hat er behauptet?“
„Der sagt, ich hätte Herrn Drolsbüttel vergiftet. Aus Rache. Dieser Neffe ist ein richtig unangenehmer Typ. An jedem Wochenende lädt er sich Leute zum Saufen ein. Dann feiern sie bis spät in die Nacht, machen Lärm, grölen herum und werfen Müll und leere Flaschen einfach über unseren Zaun. Jedes Wochenende geht das so. Irgendwann einmal hatte ich mich beschwert ...“
Kalle nickt.
„ ... und deswegen ...“
„ ... und deswegen behauptet er jetzt, ich hätte seinen Onkel vergiftet!“ Kalle schüttelt den Kopf.
Was schreibe ich auf den Totenschein?
„Der Typ spinnt doch!“
„Dieser Neffe war auch schon in der Psychiatrie. Aber ich muss heute trotzdem zur Polizei. Die wollen mich vernehmen. Wie einen Verbrecher!“
„Aber das ist doch erstunken und erlogen!“
„Richtig. Trotzdem fangen die Nachbarn an zu reden ...“
Auf meinem Schreibtisch liegt noch der Totenschein. Ich hatte bislang keine Zeit, ihn auszufüllen. Seufzend nehme ich das furchtbare Formular in die Hand. Todesursache? Eigentlich klar.
Gibt es einen Anhaltspunkt für „nicht natürlichen“ Tod? Definitiv nicht. Oder doch? „Was soll ich schreiben?“, frage ich Kalle.
Kalle zieht die Schultern hoch.
„Haltlose Anschuldigung vom Nachbarn? Ich würde die Polizei anrufen!“
Das tue ich dann auch. Zehn Minuten später ist der Fall geklärt: Die Beamten haben den Nachbarn ein wenig in die Mangel genommen und intensiv befragt, da hat er dann zugegeben, dass er sich die Sache bloß ausgedacht hat.
Schwester Paula ist erleichtert.