Depressive Episoden bei Menschen mit einer bipolaren Störung gelten als schwer behandelbar. Wie eine Studie nun zeigt, verbessert die Gabe von Schilddrüsenhormonen deutlich die Stimmung dieser Patientengruppe – und das mit nur geringen Nebenwirkungen.
Patienten mit einer bipolaren Störung leiden immer wieder an lang anhaltenden Depressionen, die nur schwer zu behandeln sind. Sie haben ein um ein Vielfaches erhöhtes Suizidrisiko – 10 bis 20 Prozent der Betroffenen nehmen sich das Leben. Wenn Patienten in die akute Phase einer Depression eintreten, versuchen die behandelnden Ärzte mit einer Mischung aus Antipsychotika, Antidepressiva und Stimmungsstabilisatoren, diese zu beenden. Gelingt das, erhalten die Patienten anschließend meist Lithium zur Rezidivprophylaxe. Warum bei schätzungsweise rund zwei bis drei Prozent aller Menschen eine bipolare Störung ausbricht, ist noch nicht endgültig geklärt: „Vieles spricht dafür, dass dieses Krankheitsbild im erheblichen Ausmaß genetisch verankert ist. Aber auch Umweltfaktoren spielen eine Rolle“, sagt Michael Bauer, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Dresden.
Im Rahmen einer randomisierten, doppelblinden und Placebo-kontrollierten Studie haben er und seine Kollegen von der University of California und der Charité Berlin nun zeigen können, dass eine supraphysiologische Dosierung des Schilddrüsenhormons Levothyroxin (L-T4) bei Patienten mit einer bipolaren Störungen Änderungen des Stoffwechsels im Gehirn bewirkt und dadurch offenbar die Depressionsrate herabsetzt. Schon seit mehr als hundert Jahren ist bekannt, dass Menschen depressiv werden, wenn man ihnen die Schilddrüse entfernt, es ihnen aber wieder besser geht, wenn sie Schilddrüsenhormone bekommen. Das brachte Forscher schon bald auf die Idee, auch Patienten mit Depressionen mit Schilddrüsenhormonen zu behandeln. Doch erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten begann man, die Effekte einer solchen Behandlung systematischer zu untersuchen. In einer Pilotstudie aus dem Jahr 2005 gelang Bauer und anderen Forschern der erste Nachweis, dass die Gabe von Schilddrüsenhormonen zu Veränderungen im Gehirnstoffwechsel führt. Aufgrund des Fehlens einer Kontrollgruppe blieb aber unklar, ob diese Veränderungen mit der Gabe des Schilddrüsenhormons tatsächlich zusammenhängen.
Für die aktuelle Studie, deren Ergebnisse in einem Artikel im Fachmagazin Molecular Psychiatry veröffentlicht wurden, gewannen die Wissenschaftler um Bauer insgesamt 25 Patienten mit einer bipolaren Störung. Alle Probanden befanden sich in einer depressiven Phase und sprachen auf die übliche Behandlung mit Stimmungsstabilisatoren und Antidepressiva nicht an. Über einen Zeitraum von sechs Wochen erhielten 15 Probanden zusätzlich zu ihrer bisherigen Medikation, auf die sie nicht ansprachen, täglich das Schilddrüsenhormon in einer Dosierung, die über dem normalen körpereigenen Spiegel lag. Die anderen 10 Probanden dagegen erhielten zusätzlich nur ein Placebo. Keiner der Studienteilnehmer litt an einer Unterfunktion der Schilddrüse. Vor Studienbeginn und direkt nach Beendigung der Behandlung untersuchten Bauer und seine Mitarbeiter den Zucker-Stoffwechsel im Gehirn aller Probanden mithilfe der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) unter Verwendung von18F-Fluorodeoxyglucose als Radiopharmakon. Im besonderen Fokus ihrer Analyse stand das limbische System: Es enthält unter anderem den Hippocampus und die Amygdala und gilt als Steuerungszentrale für Emotionen, Gedächtnis und Angst.
Die Gabe von L-T4 führte zu einem bedeutenden Rückgang der Depressionsrate während der sechswöchigen Behandlung. Auch in der Placebo-Gruppe verbesserte sich das Befinden der Patienten, doch die Effekte waren relativ gering. „Die Unterschiede zwischen beiden Gruppen waren statistisch signifikant und somit klinisch relevant“, sagt Bauer. Auch der Zuckerstoffwechsel im limbischen System erfuhr durch die Therapie mit dem Schilddrüsenhormon eine starke Deaktivierung, welche die Forscher bei den mit einem Placebo behandelten Patienten nicht beobachten konnten. Bauer und sein Team gehen deshalb davon aus, dass eine starke Korrelation zwischen der klinischen Verbesserung der Depression und den Änderungen des Gehirnstoffwechsels besteht. Nebenwirkungen, wie sie bei einer Überdosierung von Schilddrüsenhormonen normalerweise zu erwarten wären, traten in der Studie nur in sehr geringem Umfang auf. „Die Patienten, die L-T4 erhielten, vertrugen diese Behandlung sehr gut“, berichtet Bauer. „Offensichtlich fehlt ihnen das Hormon im Gehirn trotz normaler Funktion der Schilddrüse.“ Nach der Studie beobachteten er und seine Mitarbeiter alle Probanden noch weitere sechs Monate, doch Bauer zufolge sind die Ergebnisse der Nachbeobachtungsphase noch nicht ausgewertet, so dass sich im Moment noch nicht abschließend sagen lässt, wie lange die Wirkung der Behandlung mit L-T4 anhält. PET-Gehirnaufnahmen von Patienten, die mit L-T4 (oben) oder Placebo (Mitte) behandelt wurden. Je intensiver die Farbe desto größer die Deaktivierung des jeweiligen Gehirnareals. Untere Reihe zeigt Areale an, wo Unterschiede am größten waren.
Was Schilddrüsenhormone auf molekularer Ebene im Gehirn bewirken, ist seit vielen Jahren Gegenstand intensiver Forschung. Bauer: „Lange Zeit ging man davon aus, dass das Gehirn kein Zielorgan für Schilddrüsenhormone ist, doch mehrere Studien aus den vergangenen Jahren haben gezeigt, dass überall im Gehirn spezifische Rezeptorproteine vorhanden sind, an die Schilddrüsenhormone andocken können. Diese Rezeptorproteine finden sich unter anderem auch in besonders großer Menge im Hippocampus und in der Amygdala.“ Nach Ansicht von Bauer könnten Patienten mit einer bipolaren Störung über weniger sensitive oder sogar defekte Rezeptoren verfügen, so dass mehr Schilddrüsenhormon gebraucht wird, um die nötige Wirkung auszulösen. Ergebnisse aus Tierexperimenten deuten darauf hin, dass Schilddrüsenhormone auf bislang unbekanntem Weg mit dem Neurotransmitter Serotonin interagieren, der wahrscheinlich eine wichtige Rolle bei der Stimmungsregulation spielt. Bei Menschen lässt sich der Serotonin-Stoffwechsel im Gehirn nicht ohne weiteres untersuchen. Eine Möglichkeit bietet die Positronen-Emmissions-Tomographie, doch 18F-Fluorodeoxyglucose als Radiopharmakon eignet sich nicht für diese Untersuchungen sondern nur ein spezieller Serotoninrezeptor-Ligand. Da das Universitätsklinikum Dresden für eine solche Analyse nicht über die nötige Erfahrung verfügt, sucht Bauer noch einen akademischen Kooperationspartner.
Die Gabe von Schilddrüsenhormonen könnte sich als Therapie von refraktären Depressionen bei Patienten mit einer bipolaren Störung etablieren: „Für die Gruppe der schwer behandelbaren Patienten mit hohem Suizidrisiko brauchen wir sie als zusätzliche Option. Zur Standardtherapie für alle Patienten wird sie sich aber mit Sicherheit nicht entwickeln“, erklärt Bauer. Auch andere Experten halten Schilddrüsenhormone nicht für das Mittel der ersten Wahl: „Bei Patienten mit einer lang anhaltenden depressiven Phase sollte man die Gabe von Schilddrüsenhormone in Erwägung ziehen, wenn der erste oder zweite Medikationsversuch nicht geklappt hat. Sie dann solange geben, bis der Patient stabil ist und dann zu einer anderen langfristigen Medikation übergehen“, sagt Georg Juckel, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Präventivmedizin an der Universität Bochum. Die Frage, ob die Gabe von Schilddrüsenhormonen sich auch zur Behandlung von Patienten mit einer unipolaren Depression eignet, ist noch offen: „Die Gruppe dieser Patienten ist wesentlich heterogener. Wahrscheinlich gibt es viele Subtypen mit unterschiedlichen genetischen Ursachen, so dass nicht auszuschließen ist, dass der eine oder andere Subtyp auch mit Schilddrüsenhormonen behandelt werden könnte“, meint Bauer.