Mein Bäuchlein wächst. Mir und dem kleinen Wesen da drin geht es gut. Mein Chef und meine Abteilung wissen Bescheid. Keine Dienste mehr. Mein Arbeitsalltag wird entspannter, der regelmäßige Schlaf und der Tagesrhythmus in meinem neuen Leben tun mir gut. Ich bekomme Abstand von den vernebelten 80-Stunden-Wochen.
Die Gelassenheit wächst. Mein Verantwortungsgefühl mir und dem kleinen Wesen gegenüber steigt. Immer öfter rutscht mir ein „Nein“ aus dem Mund.
Nein, ich kann nicht mit kommen und dir auf Station helfen.
Nein, ich gehe Mittagspause machen, der Herr mit den Schulterschmerzen seit 12 Wochen muss noch 20 Minuten länger warten.
Nein, häng bitte die Blutkonserven selbst an.
Nein, den Patienten im Isolationszimmer mit MRSA und Clostridien behandle ich nicht.
Nein, ich kann nicht noch eine Stunde länger bleiben, ich bin durch jeden anderen Arzt hier ersetzbar. Das tut gut.
Man versucht, meine Freiheit wieder einzufordern
Mir fallen die vielen erhitzten, wutschnaubenden Gesichter auf den übergewichtigen Körpern und die vielen müden, blassen Gesichter auf den untergewichtigen Körpern meiner Kollegen auf. Die verdammt kurzen Nerven, die jederzeit bereit sind, zu explodieren. Immer öfter muss ich schmunzeln über diese einzig- und eigenartige Welt, in der ich da lebe.
Meine Kollegen und mein Chef runzeln die Stirn, verdrehen die Augen, versuchen jeden Tag, ein Stück meiner neu gewonnenen Freiheit einzufordern. Jetzt sei doch endlich Zeit für die Forschung, die Vorbereitung der nächsten Fortbildung, das Übernehmen aller 40 Patienten auf Station oder die Aufarbeitung aller liegen gebliebenen Akten und Briefe inklusive der Gutachten. Grenzen setzen schafft Abstand.
Grenzüberschreitungen verschiedener Art
Leider halten meine Mitmenschen keinen Abstand. In der Morgenbesprechung fasst mir Kollege Oberfeldwebel auf das Bäuchlein – ungefragt. Und Kollege McSexy greift mir, ebenfalls ungefragt, von hinten an meinen unter den Scrubs hervor schauenden BH-Träger und grinst amüsiert (JA, die Brüste wachsen, was für eine eigenartig neue Erkenntnis bei Schwangeren). Da schlage ich kurzerhand um mich, sodass der Radiologe Beifall klatscht.
In der Notaufnahme wartet ein junger Mann mit kaltschweißigem Gesicht. Er liegt auf der Trage und hat bereits Schmerzmittel und Flüssigkeit erhalten. Gestern beim Fußball hat ihm der Gegner in die Leiste und den Oberschenkel getreten. Sein Oberschenkel ist nun prall gespannt, rot und verursacht höllische Schmerzen.
Intime Momente mit Patienten
Durchblutung und Sensibilität ist vorhanden, Motorik schmerzbedingt aufgehoben. Der Ultraschall zeigt massiv freie Flüssigkeit. Auf die Leiste muss ich noch schauen, Unterhose also runter bitte. Er wird rot und schafft es in seinem Zustand noch einen Scherz zu machen: „Das würde ich mir wirklich häufiger wünschen. Dass mich junge, hübsche Frauen bitten, mich untenrum frei zu machen.“
Ich lache und entschuldige mich. Das mit der Intimität ist eben so eine Sache. Wenn er wolle, könne ich auch einen Kollegen holen. Er schüttelt den Kopf. Wir bereiten ihn für die OP vor, das Hämatom muss ausgeräumt werden. Bevor er in den OP fährt, fragt er mich: „Da sie ja jetzt schon alles von mir wissen und alles von mir gesehen haben, kann ich Ihre Telefonnummer haben?“ Ich kriege einen Lachanfall. Abstand bitte!