Herr Unrü sitzt mit weit aufgerissenen Augen vor mir. Er konnte sich heute einen der kurzfristigen Termin sichern und berichtet mir über ein störendes Geräusch im Ohr, das ihn gestern heimsuchte und ihn letzte Nacht nicht schlafen ließ. Es wird heute nicht der einzige Tinnitus- Patient bleiben.
Es vergeht kein Tag in meiner Praxis, an dem ich nicht mit einem Patienten über dessen Rauschen, Piepen, Pfeifen, Hämmern, Zischen oder sonstige Töne in seinem Ohr spreche. In den Augen der Betroffenen sehe ich meist eine Mischung aus Sorge, Müdigkeit und Abgeschlagenheit. Warum ist die Therapie des Tinnitus schwierig und nicht immer erfolgreich? Einige Gedanken zu diesem Thema.
Beginnen wir mit den Grundlagen, denn natürlich müssen wir die unterschiedlichen Ursachen, Verläufe und Arten sortieren, um eine sinnvolle Therapie einleiten zu können.
Dem Entstehungsort auf den Grund gehen
Nicht jeder von uns wahrgenommene Ton kommt auch wirklich aus dem Ohr. Wir projizieren ihn natürlich dorthin. Und tatsächlich gibt es einige logische Ursachen für diesen Ort der Entstehung, den ein HNO-Arzt in einer üblichen Untersuchung finden kann.
Wann fing alles an?
Je nach Ursache des Tinnitus kann natürlich auch der Beginn der Beschwerden für einen Therapieansatz interessant sein. Je früher die Ursachenbekämpfung beginnt, desto besser die Erfolgsaussichten. Diese Regel gilt ja nahezu in der gesamten Medizin. Allerdings sollten wir diese Tatsache nicht zum Anlass nehmen, einem Tinnitus als Monosymptom zum medizinische Notfall zu erklären. Bei weiteren neurologischen Ausfällen geht es sicherlich um Stunden, aber ein Tinnitus allein ist kein Notfall, sondern bedarf einer zeitnahen Abklärung, sofern er sich nicht spontan zurückbildet.
Einige Autoren sprechen von einem chronischen Tinnitus nach drei, andere nach sechs Monaten. Es gibt auch den subakuten Tinnitus als Zwischenzustand. Der Übergang sollte aus meiner Sicht nicht zwingend an einem Datum festgemacht werden.
Ursachenforschung ist sehr wichtig
Der Tinnitus ist oft nur ein Symptom. Eine spezifische Therapie existiert nicht. Antibiotika wirken gegen Bakterien, mit Nitro kann der Blutdruck gesenkt werden. Ein Medikament, das den Tinnitus in seiner Lautstärke reduziert, ist nicht denkbar.
Demnach steht im Mittelpunkt einer Therapie die Ursachenbehandlung. Wurde der Tinnitus durch einen Fremdkörper verursacht, verlässt der Patient im besten Fall geheilt und glücklich den Behandlungsstuhl, bei einer Mittelohrentzündung mit einem toxischen Innenohr (gar nicht so selten, bestimmt 20 Fälle pro Jahr allein in meiner Praxis) erfolgt eine hochdosierte medikamentöse Therapie gegen die Entzündung, den eitrigen Erguss und die schwellungsbedingten Folgen im Innenohr.
Wenn ich keine unmittelbare Ursache des Tinnitus im HNO-Bereich erkenne, kann ich meist durch eine gezielte Anamnese und orientierende Untersuchung den wahrscheinlichen Entstehungsort eingrenzen und den Patienten gezielt zum Kieferorthopäden, Hausarzt, Orthopäden, Neurologen etc. überweisen. Dies kann aber für alle Beteiligten zu einer langwierigen Prozedur werden.
Einteilung des Schweregrades
Eine Bestimmung des Schweregrades macht vor allem bei einem chronischen Tinnitus Sinn. Hier gibt es eine vier-stufige Gradeinteilung nach Goebel und Hiller:
In der Praxis reduziert sich das oft sinnvoll auf:
„Kompensiert“ bedeutet in diesem Fall, dass der Tinnitus bemerkt wird, er aber nicht zu weiteren Symptomen führt: Kein oder geringer Leidensdruck oder Verlust an Lebensqualität.
Und was kann man da jetzt machen?
Herr Unrü läßt sich nun von mir untersuchen und sofort offenbart sich die vergleichsweise harmlose Ursache: Durch mein Ohrmikroskop erkenne ich ein Gemisch aus kleinen Haaren und Ohrenschmalz. Es berührt das Trommelfell und ist für die akustischen Missempfindungen verantwortlich. Mit ein paar Handgriffen kann ich den Pfropf entfernen und Herr Unrü kann sein Glück kaum fassen.
Ein Patient mit einem frisch aufgetretenen Tinnitus kann entweder in wenigen Minuten den Raum geheilt verlassen oder an der Schwelle zu einer lebensverändernden und schwerwiegenden psychischen Störung stehen. Also nehme ich diese Patienten ernst! Ich höre mir ihre Ausführungen zunächst ruhig, mit Augenkontakt und ohne Unterbrechung an. Dann folgen einige offene und geschlossene Fragen, um die Möglichkeiten des weiteren Vorgehens einzugrenzen.
Anschließend mache ich einige körperliche Untersuchungen, eventuell schon inklusive abschließender helfender Maßnahmen, apparativer Diagnostik in der Neurootologie. Außerdem führe ich das Gespräch, das gerne als Counseling bezeichnet wird. Hier wird besonders Wert auf die Gesprächsebene im Arzt-Patient-Kontakt gelegt, die dem Betroffenen aufzeigt, dass jemand zuhört und versteht, die Ursache finden und behandeln möchte. Und vor allem soll dem Patienten auch erklärt werden, wie der weitere Behandlungsverlauf aussehen kann. Durch Aufzeigen von Perspektiven können Sorgen oft genommen werden.
Therapieplan: So kann es weitergehen
Für jede Form des Tinnitus gilt, es zunächst mit Counseling und Behandlung der Ursache zu versuchen.
Medikamentöse Therapie? Versehen Sie ihre Suchmaschine mit den Begriffen Tinnitus, Therapie und Medikament und Sie werden schnell sehen, dass es nur eine „indirekte“ Therapie im Angebot gibt.
An einer durchblutungsfördernden Therapie zur Verbesserung der Reparaturvorgänge im Innenohr ist natürlich nichts auszusetzen, aber zu einer Empfehlung in den Leitlinien hat es nicht gereicht, weil es aus Sicht der Autoren keine hinreichend beweisenden Studien gibt.
Die wichtigsten Therapiesäulen bei einem chronischen Tinnitus beziehen sich auf die Leitlinien: die Behandlung der Ursache, das Counseling und im Falle eines dekompensierten Tinnitus, die tinnitusspezifische strukturierte kognitive Verhaltenstherapie mit validiertem Therapiemanual. Eine vorrübergehende symptomatische Behandlung der Schlafstörung, Angst und Depression kann zusätzlich erfolgen.
Schwierigkeiten mit autoritären Konzepten
Im Falle eines monosymptomatischen akuten Tinnitus ohne erkennbare Ursache sollte ein gemeinsames Behandlungskonzept entworfen werden. Eine zu autoritär vorgegebene Therapie kann den Patienten allerdings wieder in eine Situation des Ausgeliefertseins bringen. Und warum sollte man den Betroffenen nicht einfach mit einbeziehen?
Das beschriebene Vorgehen kann dazu führen, dass ein Patient die Praxis beruhigt und aufgeklärt ohne Rezept verlässt, nachdem ich eine „schlimme“ organische Ursache weitgehend ausgeschlossen habe und er sich vielleicht seiner akuten Stresssituation bewusst geworden ist.
Wenn man aus dem Gespräch heraushört, dass eine medikamentöse Therapie – etwas Fassbares und Reales – gewünscht ist, empfehle ich gerne pflanzliche Medikamente, die vor allem keinen weiteren Schaden verursachen und zumindest als Placebo wirken. Hinzu füge ich dann, dass der Patient sich gerne melden könne, wenn er eine intensivere Therapie wünscht.
Eine Behandlung mit Glukokortikoiden oral, intravenös oder lokal transtympanal kommt nur in Ausnahmefällen zum Zuge. Nicht selten wird sie sogar gefordert. Hier gilt es abzuwägen, denn auch die Verweigerung einer Therapie kann den Verlauf negativ beeinflussen.
Sonstige Alternativen
Und was ist mit Noiser, Masker, Musik- und Stresstherapien, Neuromodulatoren, und den diversen Apps?
Ja, es gibt positive Ansätze und vielversprechende Erfolge. Aus Sicht der Anbieter ist die Wirksamkeit längst bewiesen. Aber es gibt auch immer wieder Spontanheilungen, sodass die Evidenz noch nachzuweisen bleibt. Zumindest sollten all diese Möglichkeiten dem Patienten auch im Verlauf seiner Leidenszeit angeboten werden, weil sie in einigen Fällen Halt und Hoffnung geben können.
Nicht immer läuft es so gut wie bei Herrn Unrü
Eine schnelle Hilfe wie bei Herrn Unrü, der auf dem Weg nach draußen noch ein lautes Loblied auf seinen tollen HNO-Arzt anstimmte, ist leider nicht die Regel. Frau Großkehl aus der Nachmittagssprechstunde hat ihren Tinnitus schon seit über zehn Jahren. Der HNO-Kollege im Nachbarort habe ihren Tinnitus nicht ernst genommen, ihr immer wieder teure Medikamente verschrieben, zuletzt auch Schlafmittel. Sie konnte nicht mehr. Irgendwann hatte ihr Arzt immer wieder gesagt, er könne ihr nicht helfen und „damit müssen Sie jetzt leben!“.
So wahr und doch so schlecht formuliert! Natürlich müssen einige Betroffene auf Dauer lernen, sich mit dem Tinnitus zu arrangieren. So eine knallharte Wahrheit hilft ihnen aber nicht. Sie wollen hören, dass sie bestimmt mit den Tinnitus ein normales Leben führen können, dass sie sich nicht in ihr Geräusch hineinsteigern sollen, sondern es aus dem Fokus ihrer Gedanken aktiv verdrängen sollen.
Den Fokus auf etwas anderes lenken
Das können einige schon, indem sie einfach an etwas anderes denken oder sich durch andere Töne (leise Musik zum Einschlafen) ablenken lassen. Ein Vorgang, den viele selbst steuern können und automatisieren. Dann ist der Ton zwar noch vorhanden, aber nicht Vordergrund des Bewusstseins. Er verlässt die kognitive Ebene, also die Wahrnehmungsebene.
Nachdem ich Frau Großkehl einer ausgiebigen Untersuchung unterzogen hatte, konnte ich sie zu einer Tinnitus-Spezialistin in der nächsten Großstadt überweisen. Nach einem halben Jahr nun in einer Verhaltenstherapie geht es ihr deutlich besser. Neuer Job, neuer Partner, neue Frisur und ein Lächeln im Gesicht.
Quellen:
S3-Leitlinie 017/064: Chronischer Tinnitus
Sensory and psychophysiological aspects of a new pathway of acquired centralization of chronic tinnitus HP Zenner et al.; Otol Neurotol, doi: 10.1097/01.mao.0000231604.64079.77; 2006
The management of chronic tinnitus: comparison of an outpatient cognitive-behavioral group training to minimal-contact interventions B Kröner-Herwig et al.; Psychosom Res, doi: 10.1016/S0022-3999(02)00400-2; 2003