Schon als Medizinstudent kann man Führungskompetenz ausstrahlen. Der Student Thierry stellt einerseits richtige Diagnosen bei Patienten und schult andereseits seine jüngeren Kommilitonen bei einer Biopsie an der Universität. Damit ist er einigen älteren Kollegen weit voraus.
Das ist also gemeint, wenn wir in Vorlesungen hören, dass 70% der Diagnosen bereits nach der ersten Untersuchung gestellt werden können. Und – beeindruckend – schon als Student kann man das schaffen! Madame R. genießt die Zuwendung. Wieder eingekuschelt in ihren roten Frottee-Morgenmantel sitzt sie in ihrem Sessel und nutzt die Gunst der Stunde. Detailliert setzt sie den angehenden Mediziner von ihren Schmerzen und Beschwerden in Kenntnis. Im Gegenzug wird sie darüber aufgeklärt, woher ihre Müdigkeit trotz ausreichend Schlaf aller Wahrscheinlichkeit nach rührt und warum sowohl ihre Schmerzen in den Beinen als auch die juckende Schulter mit ihrer Arthrose zusammenhängen. Stichwörter sind das Schlafapnoe-Syndrom und neurologische Beschwerden durch Osteophyten bzw. den arthrotischen Befall der Wirbelsäule. Ich bin ähnlich verzaubert von Thierry wie seine Patientin. Eben noch mit Kommilitonen und Schwesternteam gescherzt, erfüllt er nun sehr kompetent und gründlich seine Aufgaben. Vorhin hat er drei Studenten bei einer Biopsie zuschauen lassen und sie gleichzeitig geschult. Anschließend angenehm unprätentiös eine Fehlerliste aufgestellt mit Dingen, die er (und wir bitte auch) das nächste Mal so nicht machen sollten. Danach sind wir detailliert das EKG „meiner“ Patientin durchgegangen und Thierry hat an mich mithilfe einer Skizze sein Wissen zu bullösen Dermatiden weitergegeben. Denn diese die Haut und Schleimhäute befallende Autoimmun-Krankheit plagt die kleine stämmige Frau, die ich in meiner ersten Woche in der Dermatologie betreue.
„Great leaders create other leaders. Not followers.“
Das mag etwas pathetisch klingen, nach nur einem Vormittag ist mein Urteil vermutlich vorschnell und übertrieben und Thierry ist bei weitem noch keine Führungsperson. Kurz vor dem Examen stehend hat er uns gegenüber – Kommilitonen aus niedrigeren Semestern – aber trotzdem eine Mentorenrolle. Und die hat er – zumindest heute früh – ausgesprochen gut erfüllt. Für mich ist der Spruch, den ich irgendwann aufgeschnappt habe und der mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf geht, außerdem recht breit zu fassen. Menschen, die an ihre eigenen Fähigkeiten, ihr Wissen und Können glauben, sind sich bewusst darüber, dass sie nicht an Wert verlieren, wenn sie davon etwas an andere weitergeben. Ganz im Gegenteil schätzen sie den Austausch mit anderen, auch denen, die „unter ihnen stehen“, weil sie wissen, dass es auch für sie selbst dabei immer noch etwas zu entdecken und zu erlernen gibt. Und dass sich dadurch Tor und Tür öffnen, wenn sie selbst auf Hilfe angewiesen sind (Stichwort Kooperation zwischen Ärzte- und Pflegeteam).
Warum können wir nicht alle so sein?
Im direkten Kontrast dazu unsere Oberärztin. Unterkühlt ist ihr Verhalten ihrem Assistenten gegenüber, irgendwie bissig ihre Kommentare. Trotz des (unecht und etwas hysterisch anmutenden) Lachens, das ihnen folgt, behalten sie einen fiesen Beigeschmack. Warum ist sie so? Ich mache mir Gedanken. Mangel an Selbstbewusstsein, Verlustängste. Unserer Oberärztin unterstelle ich keinesfalls einen Mangel an Kompetenz. Aber einen Mangel an Selbstbewusstsein und Ängste davor, dass ihr jemand ihre Position streitig machen könnte, durchaus. Auch wenn sie ein gegensätzlich erscheinendes Verhalten an den Tag legt. Und man meinen könnte, dass sie doch schon einiges erreicht hat und Ängste daher unbegründet seien müssten. Aber warum sonst sollte sie durch diese Art unangenehmer Machtdemonstrationen versuchen, ihre Stellung zu unterstreichen.
Unausgeglichenheit. Vier Säulen sind im Leben wichtig, um glücklich zu sein, habe ich mal gelernt: Familie, Freunde, Beruf und das „Ich“. Gut möglich, dass dieses Gleichgewicht ehrgeizigen jungen Menschen mit Karriereambitionen aus der Waage gerät. Neben dem Beruf können Freunde und Partnerschaft zu kurz kommen, neben Familie (insbesondere Kindern) und Beruf die Zeit für sich selbst und Freunde. Ein autoritäres pädagogisches Konzept aus alten Zeiten. Ob sie den Assistenzarzt und uns Studenten vor Augen führen möchte, wie unangenehm es ist, wenn man vor dem Patienten steht und vorgeführt wird, um uns dazu zu animieren, härter zu arbeiten? Ich habe meine Zweifel daran. Zu übertrieben scheinen mir dafür ihre mit ausdrucksvoll geschminkten Wimpern ausgestatteten Augen, die sie - während ihr „Untergebener“ leicht stotternd die Krankengeschichte einer Patientin vorstellt – zitternd geschlossen hält, als müsse sie sich innerlich zurückhalten um ihm nicht sofort ungehalten ins Wort zu fallen angesichts solcher Inkompetenz.
Stress. In der Medizin bei sehr intensiven Arbeitszeiten ein sicherlich sehr weit verbreiteter Grund für Stänkereien in alle Richtungen. In der Dermatologie – einem Fachbereich ohne ständige Nachtdienste und Notfälle, die den Puls in die Höhe treiben – geht es allerdings eher vergleichsweise ruhig zu.
Vielleicht übersehe ich noch andere Gründe; fühlt euch frei, eure Ideen mit mir zu teilen. Ich möchte gern besser verstehen, warum fiese Leute fies sind.
Und was lernen wir daraus?
Zurück zu unserem netten Studenten. In diesem Sinne: Let's all be a little bit like Thierry! Nein, bleibt wie ihr seid. Aber atmet tief durch, seid euch gewiss, dass ihr nicht bedroht seid (und wenn doch, schaut zu, eine Schutzschicht aus Wissen und Selbstbewusstsein aufzubauen), unterstützt Neulinge und diejenigen, die es sonst nötig haben. Ich bin überzeugt davon, dass euch das nicht schwächer, sondern stärker machen wird.
Und nebenbei ein Fun Fact: Thierry ist die französische Version des deutschen Vornamens Dieter. Lasst uns also alle ein bisschen Dieter sein!
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