Kürzlich beim Personalgespräch mit meinem Chefarzt: „Liebe Frau Schneider, wie sieht es eigentlich mit Ihrem Kinderwunsch aus?“ Mir war klar, dass er nicht wissen wollte, ob ich als Kind eigentlich Primaballerina oder doch schon immer Ärztin werden wollte.
Insgeheim wünschte ich mir ein Gespräch zwischen einem Mann der Wissenschaft und einer Frau der Wissenschaft (mir), in dem es darum ging, sachlich das Für und Wider von Geschwisterrangfolgen, reinen Jungenhaushalten und Impfproblemen zu diskutieren. Immerhin hatte er ein Thema angesprochen, das sich mir immer wieder ins Bewusstsein drängt.
Immer wenn ich winzige Bodys in Kartons verpacke und gegen Boxershorts ersetze, stellt sich mir die Frage: Verkaufen? Oder aufbewahren für das nächste Kind? Bin ich schon im nächsten Lebensabschnitt, in dem ich eine Finca auf Mallorca als Alterssitz plane oder in den letzten Zügen der Stinkwindel-welcher-ist-der-beste-Windeleimer-Phase? Charlie Chaplin wurde noch mit 74 Jahren Vater, weil er wahrscheinlich, so wie ich auch, noch nicht in einer Finca sterben wollte.
Dabei gibt es nicht nur die üblichen Fragen zu klären, die ich mit mir selbst hätte aushandeln können: Bin ich in der Lage, einen Bus rückwärts einzuparken? Wieviele Badezimmer sind ein Minimum? Gibt es Militärs, die als Nanny einen Zweitjob suchen? Ist der Garten groß genug zur Selbstversorgung mit tierischem Eiweiß?
Zeitstress als Ursache für Nicht-Impfung?
Nein, es geht auch noch um viel brisantere Fragestellungen. Ich schätze die Meinung meines Chefs sehr und hätte gerne gewusst, wie er die Problematik einschätzt, dass rein statistisch mit zunehmender Anzahl der Kinder die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass diese nach STIKO geimpft sind bzw. gegen überhaupt irgendetwas geeimpft sind. Die Wahrscheinlichkeit für eine Masernimpfung sinkt mit jedem Kind immerhin um ca. 20 Prozent.
Vielleicht ist es „nur“ eine Frage der Zeiteinteilung, da man sowohl den Japanischkurs des Thronfolgers als auch die muskalische Früherziehung des Zweitgeborenen berücksichtigen muß. Vielleicht ist es aber auch der einfachen Tatsache geschuldet, dass ein Kind durchschnittlich zehn fieberhafte Infekte im Jahr durchmacht, das Ganze mit drei multipliziert, mit der Anzahl der Eltern im Quadrat gerechnet, in Klammern und hoch fünf mit der Schlafmangelskala-MUEDE2 (1-10) aufgerundet.
Nachzügler haben’s schwerer
Rein mathematisch betrachtet ergibt sich also, dass für ein drittes Kind kein gesundes Intervall zur Impfung verbleibt. Wenn dieses Kind es also unbeschadet bis zum Auszug der älteren Geschwister schaffen sollte, kann man eine Impfung höchstens noch nachholen falls man es nicht vergisst – so wie das Foto vom ersten Zahn, das erste Klatschen, den Moment, als das Kind zum ersten Mal allein auf seinen Füßen stand, windelfrei war oder wie Kevin allein zu Haus beim Durchzählen einfach nur vergessen wurde. Nachzügler haben es einfach schwer.
Für ein drittes Kind hätte ich wohl auch die falsche Facharztweiterbildung angestrebt. Nehmen wir an, das dritte Kind wäre nun wirklich wieder ein Junge, dann hilft es nichts über formschöne T-Wellen philosophieren zu können. Es wäre viel nützlicher, zu wissen, ob ich lieber mit Pattex oder Uhu die Platzwunden kleben sollte. Geht man mit drei Kindern, davon eins mit Platzwunde, in eine Notaufnahme, kommt man mit Magen-Darm, Scharlach und Hand-Mund-Fuß wieder nach Hause. Wobei sich da wieder der Kreis zu den Impfungen schließt.
Der ewige Kreislauf des Arztlebens
Ein wichtiger und häufig unterschätzter Aspekt ist zudem der Altersabstand zwischen den Geschwisterkindern. Chaplin konnte das ja in die Länge ziehen und halten wie er wollte, uns Frauen macht die Biologie irgendwann einen Strich durch die Rechnung, außer man möchte wochenlang Aufhänger aller Titelseiten der Bildzeitung sein.
Gründet man nicht im Studium eine Familie und möchte man erst einmal im Beruf Fuß fassen, erst einmal ein bisschen drin sein und die nächste Zwei-Jahres-Vertragsverlängerung abwarten, erst einmal den Facharzt haben ... Irgendwann ist man wieder am Anfang, weil man einen neuen Mann sucht, der diesen Irrsinn mitmacht, weil der andere nun doch keine Lust mehr auf eine Frau hatte, die „Karriere“ macht, weil sie an „Wochenenden und im Schichtdienst arbeitet“.
Ganz so war es dann nicht bei Familie Schneider, aber der Altersabstand wäre bei allen Kindern dennoch unter drei Jahren und schwere Geschwisterrivalitäten wären damit quasi vorprogrammiert. Diese würden erst zu einem untrennbaren Band der Liebe wachsen, wenn man selber nichts mehr davon hat. Irgendwann werden die Kinder älter, haben keine Lust mehr auf meine mit Spucke benetzten Taschentücher, mit denen ich immer irgendwas aus ihren Gesichtern wischen muss und sie ziehen aus. Zusammen aufwachsen bedeutet Verbundenheit, ein Leben lang, auch wenn man sich seine Geschwister nicht aussuchen kann. Aber wie gesagt, alles nur rein statistisch.
Geschwisterrangfolge – ein schwieriges Thema Der Erstgeborene würde also erneut ein schweres Entthronungstrauma durchmachen müssen. Am Anfang ist man nämlich alleine und genau das ist der neuralgische Punkt. Die anderen lernen von Anfang an zu schlichten, sich durchzusetzen und sich zu arrangieren. Für das erste Kind muss man am besten früh in eine Therapie investieren. Das Mittelkind wäre ein Mittelkind, das sagt bereits alles.
Die Geschwisterrangfolge ist dabei signifikant prägender als die Gemeinsamkeit, unter einem Dach zu wohnen, in ein und demselben sozialen Umfeld groß zu werden und sich die Hälfte aller Erbanlagen zu teilen. Eineiige Zwillinge, die getrennt voneinander aufwachsen, sind sich letztendlich ähnlicher, als wenn sie zusammen aufgewachsen wären. Die Familie ist nicht für alle gleich und gerecht, auch wenn wir das als Eltern noch so sehr versuchen und das Erbe auf Heller und Pfennig bis 28 Stellen nach dem Komma aufteilen. Die Wahrnehmung der Kinder ist hier eine ganz andere. Ein Kind wird zum Lieblingskind, meist das Jüngste, eins ist immer der Schuldige und eins, na das vergisst man irgendwie immer.
Die letzten werden die Dümmsten sein? Initial wirken die Nachzügler zwar klüger und können schon alle Schimpfworte, bevor sie aufrecht stehen können oder mit dem BMX-Bike die Straße unsicher machen, noch bevor der Nuckel am Schnullerbaum in die Unerreichbarkeit verschwindet, das relativiert sich aber spätestens im Erwachsenenalter. Zunächst ist das Niveau zwar durch die jüngeren Geschwister gedrückt und es wird Sandmädchen statt Ninjago im Fernsehen gesehen, dafür ist der Erstgeborene Lehrer und Erklärer für seine jüngeren Geschwister. Das Gelernte festigt sich beim künftigen Familienoberhaupt, indem er den jüngeren Geschwistern erklärt, wie man den Chemiebaukasten zum brennen bekommt und es nicht mehr selber machen muss. Dies spiegelt sich im Erwachsenenalter häufig in einem höheren IQ im Vergleich zu seinen Geschwistern wider. Aber nicht nur die Geschwisterrangfolge, sondern auch die Geschlechterkonstellation prägt den Familienbetrieb. Der Zug, mit zwei bis drei Mädchen Einhornhaar zu striegeln, heimlich Tagebücher zu lesen, Liebeskummer zu besprechen, Pyjamapartys zu feiern und nächtelange Gespräche zu führen, in denen alle kooperativ und weiblich miteinander umgehen, ist bei uns irgendwie abgefahren.
Schwestern, Annika und Pippi
Jungen profitieren von einer größeren Schwester, indem sie auch lernen, weibliche Lösungsstrategien anzuwenden. Der sanftmütige Augenaufschlag von unten, der zarte Händedruck und die kloßige Stimme im Spielzeugladen bringen einen deutlich weiter, als das zu Boden werfen und Ich-will-Geschrei. Mädchen hingegen lernen kaum von einem älteren Bruder, außer solche Dinge, die die Eltern zur schieren Verzweiflung bringen und eine gute Hausratversicherung erfordern. Aus Annika wird in dieser Konstellation eher eine Pippi, dafür profitiert auch hier erneut der jüngere Bruder – meiner Meinung nach quasi beweisend dafür, wie großartig Frauen sind. Dazu aber mehr in meinem nächsten Artikel.
Gute Reflexe helfen den Eltern Bei einem reinem Jungenhaushalt wie dem unserem, profitiert irgendwie keiner vom anderen – außer natürlich von mir. Diese Konstellation in Kombination mit dem geringen Altersabstand ist quasi der Supergau. Hier geht alles irgendwie körperlicher zu. Dort, wo die Dominanz eine Rolle spielt, muss man als Elternteil über gute Reflexe verfügen, denn wer sich regelmäßig zwischen raufende Körpermassen werfen muss, sollte unbedingt über gute Reflexe und eine einwandfreie Koordination verfügen. In einem Wochenend-Judokurs kann man bereits lernen, wie man sich mittels einer Judorolle am besten schmerzlos abrollt, ohne dass einem die Kniearthrose wieder so schlimm zu schaffen macht.
Temperament hingegen ist angeboren, ein schüchternes Kind reagiert auf ein dominantes Kind mit noch größerer Verschüchterung. Wenigstens etwas, für das die Eltern in der Aufzucht ihrer Kinder nicht verantwortlich gemacht werden können.
Eine Nische für jedes Geschwisterkind Abgrenzung verhindert direkte Konkurrenz. Geschwister versuchen deswegen, unterschiedliche Nischen auszufüllen. Der eine ist sportlich, der andere musisch und der letzte kann mittels Zahnseide, dem Inhalt eines Apothekenschrankes und einem guten Chardonnay faszinierende Rauchwolken herstellen. Was wenn aber derselbe Bereich ausgefüllt wird und sie alle gut in allen Arten von Nahkampftechniken sind?
Vielleicht sollte man aber gar nicht so kleingeistig sein, immer über sich und die eigenen Probleme sinnieren und stattdessen mal in größeren Dimensionen denken. Vielleicht braucht es eine bestimmten Persönlichkeitsstruktur, um radikale Ansichten zu vertreten, diese umzusetzen und diese unsere Welt zu verbessern?
Und dann doch: Die Geschwisterrangfolge ist entscheidend Dr. Frank Sulloway, seines Zeichens Geschwisterforscher, fand heraus, dass weder das Alter, noch der soziale Status ausschlaggebend für die Entstehung wissenschaftlich revolutionärer Gedanken war, sondern der Platz in der Geschwisterfolge. Befürworter des heliozentrischen Weltbildes, der Relativitätstheorie, der Traumdeutungsanalyse von Freud und von 28 weiteren wissenschaftlichen Revolutionen waren in der Geschwisterfolge ganz weit hinten. Es waren zumeist Dritt- bis Fünftgeborene.
Ich hätte gerne diese Gedanken mit meinem Chef geteilt und vielleicht hätte ein Mann der Wissenschaft einer Frau der Wissenschaft in der Entscheidungsfindung helfen können.
Stattdessen erzählte ich ihm, dass ich eigentlich früher Primaballerina werden wollte. Denn lieber Chef, wir leben in modernen Zeiten, die Relativitätstheorie wurde durchgewunken, das heliozentrische Weltbild zunächst auch, wurde dann jedoch abermals revolutioniert. Fragen wie diese sollten ebenfalls der Vergangenheit angehören.