„Flüchtlinge integrieren sich nicht und lernen nicht unsere Sprache“ – mit solchen Aussagen wird Stimmung gegen sie gemacht. Migranten bereichern die Gesellschaft, davon ist der Medizinstudent Las überzeugt. Vor 16 Jahren floh er aus dem Irak. DocCheck sprach mit ihm.
Das Thema Asylsuchende in Deutschland und die Frage, welche Auswirkungen die Zuwanderung auf unser Sozialsystem hat, beherrscht schon länger die Medienlandschaft. Nicht selten sind die Schlagzeilen negativ, was sicherlich mit zu dem aktuellen Rechtsruck in unserer Gesellschaft beiträgt. DocCheck hat mit einem Medizinstudenten gesprochen, der vor 16 Jahren als kleiner Junge mit seiner Mutter aus dem Irak floh. Einem Land, das vom Krieg gezeichnet ist. Der 23-jährige Las Ismail ist irakischer Kurde und er erzählte uns seine Geschichte. DocCheck: Wie war das Leben in deiner Heimat? Und warum musstest du mit deiner Familie damals eure Heimat verlassen? Las: Zu der damaligen Zeit war noch Saddam an der Macht. Wir Kurden wurden unter dem Regime unterdrückt und verfolgt. Hinzu kam große Armut im ganzen Land. Meine Eltern haben sich sehr viel Mühe gegeben, mir eine normale Kindheit zu ermöglichen, soweit das möglich war. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Am 16. März 1988 sind in Halabja – einer kurdischen Stadt im Norden Iraks – etwa 5.000 Menschen durch einen Giftgasangriff ums Leben gekommen. Die missliche Lage und die Unterdrückung wurden immer schlimmer – bis sich meine Eltern dazu entschieden, nach Deutschland zu flüchten. DocCheck: Hast du noch viele Freunde und Verwandte dort? Las: Auch heute lebt der Großteil meiner Verwandten noch im Irak. Allerdings haben sich einige, wie wir, dazu entschlossen, ins Ausland zu gehen. Eine meiner Cousinen ist zum Beispiel mit ihrer Familie nach Holland geflüchtet. Dort hat sie die Schule erfolgreich beendet und danach Jura studiert. Heute arbeitet sie dort als Anwältin. Außerdem haben wir noch Familie in Norwegen und in der Schweiz. Wir versuchen, unserer Verwandten in Europa sehr häufig zu besuchen, um den Kontakt nicht zu verlieren. DocCheck: Wie bist du dann letztendlich nach Deutschland gekommen? Las: Zuerst ist mein Vater 1995 vorgegangen, um uns in Deutschland etwas aufzubauen. Da war ich gerade einmal 3 Jahre alt. Der Plan war, dass meine Mutter mit mir nachkommen sollte, sobald ein Leben für uns in Deutschland möglich war. Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, als er verschwand. Ich wusste irgendwie, dass ich ihn für eine lange Zeit nicht mehr sehen werde. Meine Mutter erzählte mir dann, dass Deutschland auf dem Mond liegt. Abends wenn der Himmel klar war, habe ich immer zum Mond geschaut und mich gefragt, was mein Vater wohl macht. Das klingt wie eine kitschige Geschichte, aber es ist tatsächlich so gewesen. Was soll man einem 3-Jährigen auch sonst erzählen, wenn sein Vater vom einen auf den anderen Tag fortgeht. Heute schmunzele ich darüber. Erst drei Jahre später sind meine Mutter und ich in die Türkei gereist, um von dort aus mit dem Flugzeug nach Deutschland zu fliegen. Dort haben wir fast ein Jahr gewartet, durften am Ende aber nicht von der Türkei aus fliegen. Wir mussten schließlich eine Route nehmen, die um ein Vielfaches anstrengender und gefährlicher war. Sie führte von Griechenland nach Italien, dann nach Frankreich und endete dann in Hamburg. Insgesamt waren wir einen ganzen Monat unterwegs. DocCheck: Hattest du das Gefühl, dass deine Familie hier gut aufgenommen wurde? Las: Anfangs war es für mich und meine Eltern wegen der Sprachbarriere sehr schwierig. Obwohl mein Vater ja schon länger in Deutschland lebte, hatte er keine guten Sprachkenntnisse, da er nicht die Möglichkeit bekam, einen Sprachkurs zu absolvieren. Auf seiner Arbeit hatte er ebenfalls keine Kollegen, die mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen waren. Heute arbeitet er in einer Textilfirma als Techniker. Im Irak hat er Physik studiert. Was mich sehr traurig macht ist die Tatsache, dass er seine Arbeit als Physiker trotz größter Anstrengung und vieler Bewerbungen bis heute nicht nachgehen konnte. Insgesamt wurden wir bis auf einige Ausnahmen, gut aufgenommen. Ich bin der Meinung, dass man überall willkommen ist, wenn man ehrgeizig ist und seiner Umgebung und seinen Mitmenschen Respekt entgegenbringt. Das geht auch, wenn man nicht die gleiche Sprache spricht. DocCheck: Wie war die erste Zeit in der Schule für dich? Fiel es dir leicht, neue Freunde zu finden? Las: Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, wie mir meine damalige Lehrerin ein Bilderbuch in die Hand drückte, auf dem Körperteile und ihre deutsche Bezeichnung abgebildet waren. Meine Mutter hat jeden Tag fleißig mit mir geübt, auch wenn ich keine Lust hatte. Als Kind möchte man lieber spielen und draußen sein. Das Wort „Augenbrauen“ heißt auf Kurdisch „bro“. Ich habe damals nicht begriffen, wie so ein kurzes Wort im Deutschen so in die Länge gezogen werden kann. Glücklicherweise habe ich die deutsche Sprache schnell gelernt und konnte mich recht schnell verständigen. Daher fand ich auch sehr schnell Freunde, mit denen ich zusammen gespielt habe. Leider waren meine Noten in Deutsch, Grammatik und Rechtschreibung in der Grundschule nicht gut genug, um aufs Gymnasium zu gehen. Meine Eltern entschieden damals, dass ich auf einer Gesamtschule besser aufgehoben wäre. Das hat mich auf der einen Seite sehr geärgert, aber auf der anderen Seite umso mehr motiviert, mein Bestes zu geben. Letztendlich bin ich bis zum Abitur auf dieser Schule geblieben. DocCheck: Nach der Schule hast du dich dazu entschieden, Medizin zu studieren. Wie kam es zu dieser Entscheidung? Las: Nach dem Abitur wusste ich nicht so recht, was ich machen sollte. Glücklicherweise hatte ich ein sehr gutes Abitur, das mir die Tür zu jedem Studium öffnete. Ich war schon immer naturwissenschaftlich begeistert und habe in der Medizin ein Fach gefunden, das alle Naturwissenschaften vereint. Das war damals der Hauptgrund für meine Entscheidung, diesen Weg zu gehen. DocCheck: An welcher Universität studierst du? Was macht dir am Medizinstudium am meisten Spaß, was weniger? Las: Ich studiere an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und komme jetzt ins 9. Semester. Das Studium ist unglaublich toll. Ich denke, kein anderes Studium ist so facettenreich und spannend. Auch die Praktika, die man in den Semesterferien macht, finde ich bereichernd und schön, weil man das Gelernte und die Praxis sofort miteinander verknüpfen kann. Das einzig Negative am Studium ist meiner Meinung nach die Klausurwoche, in der wir innerhalb einer Woche alle im Semester anfallenden Klausuren schreiben. Dann heißt es Bulimielernen. DocCheck: Gab es an der Universität fremdenfeindliche Vorfälle? Fühlst du dich dort und in deinem Freundeskreis gut integriert? Las: Ich denke, Fremdenfeindlichkeit entsteht vor allem durch Unwissenheit und einen kleinen Horizont. Im Großen und Ganzen gilt wohl: je gebildeter jemand ist, desto aufgeschlossener ist er heutzutage. An der Universität hat jeder eine gute Bildung genossen. Da sind die Menschen offen gegenüber anderen Kulturen, was sehr gut ist. Diese Einstellung sollte überall so gelebt werden. Nur durch eine offene Einstellung zu Neuem kann Fortschritt entstehen. Ich kann mich glücklich schätzen, sehr gute und herzliche Freunde gefunden zu haben, denen es egal ist, ob meine Haare einige Nuancen dunkler sind als ihre eigenen. DocCheck: Hast du dich bereits für einen Weg nach der Universität entschieden? Las: Ich weiß noch nicht so recht, worin ich mich genau spezialisieren möchte. In die engere Auswahl kommen MKG-Chirurgie und HNO-Heilkunde. Für die MKG-Ausbildung müsste ich noch Zahnmedizin studieren. Da bin ich mir noch nicht ganz sicher, ob ich mir das antun möchte. Sicher ist jedoch, dass es ein chirurgisches Fach sein wird. DocCheck: Hast du manchmal Heimweh, sodass es dich wieder zurück in deine alte Heimat zieht? Oder fühlst du dich in Deutschland mittlerweile zu Hause? Las: Ich vermisse meine dort lebende Familie, die ich wirklich sehr selten sehe. In den ganzen Jahren habe ich sie nur zweimal im Irak besuchen können. Es ist dort sehr heiß und auch das Leben unterscheidet sich stark von dem hier. Es ist viel chaotischer und hektischer, als wir es in Deutschland gewohnt sind. Meine Heimat an sich vermisse ich daher nicht. Ohnehin verbinde ich mit ihr nur wenige schöne Moment. Ich würde nicht zurück wollen, da es mir hier zu sehr gefällt. Deutschland ist ein wirklich sehr schönes Land, in dem ich mich gut aufgehoben fühle. DocCheck: Hast du das Gefühl, dass die Gesellschaft oder deine Mitmenschen dich anders wahrnehmen – wenn du die Zeit vor der großen Flüchtlingswelle mit heute vergleichst? Las: Nein, das Gefühl habe ich bis jetzt zum Glück noch nicht gehabt. Klar gibt es bei den Flüchtlingen solche, die sich daneben benehmen und so ein schlechtes Bild auf alle werfen, das ist allerdings nur ein sehr kleiner Teil. Leider sind solche negativen Vorfälle prägnanter und bleiben in den Köpfen der deutschen Bevölkerung länger bestehen. Es gibt aber auch viele Flüchtlinge, die sich korrekt verhalten und alles tun, um sich schnellstmöglich zu integrieren. Ein Zitat, das ich sehr passend finde stammt von dem britische Künstler Banksy: „Wir sind oft geneigt zu denken, dass Migration eine Belastung für den Staat ist. Aber Steve Jobs war auch Sohn von Migranten. Apple ist das erfolgreichste Unternehmen der Welt. Es bringt jedes Jahr sieben Milliarden Dollar an Steuergeldern ein – und es existiert nur, weil man einem jungen Mann aus Homs einzureisen erlaubt hat.“ Was man aus der Vergangenheit lernen kann ist, dass Migration auch große Chancen bietet. Man muss sie allerdings nutzen und Migranten fördern, um ihr Potential zuzulassen. DocCheck: Wie stehst du zur aktuellen Situation, in der Asylsuchende in großer Zahl in Deutschland Schutz suchen? Machst du dir Sorgen um die Zukunft? Las: Ich kann nicht in die Zukunft sehen. Ich weiß nur, dass die aktuelle Situation eine enorme Umstellung für Deutschland und alle seine Bürger darstellt. Ich denke allerdings, dass sich die Situation nach und nach einpendeln wird. Ich hoffe sehr, dass alles in eine positive Richtung geht. Am besten wäre es, wenn der Krieg und das Elend in der Heimat der Flüchtlinge enden würde. Denn niemand, dem es in seinem eigenen Land gut geht, würde es freiwillig verlassen und einen solch gefährlichen Weg auf sich nehmen, bei dem schon viele ums Leben gekommen sind. Bei dem Namen Las Ismail handelt es sich nicht um den richtigen Namen des Interviewten, um seine Privatsphäre zu schützen.