Ich lese einen Artikel über die Generation Y. Mehr Freizeit, Selbstverwirklichung, Zeit für Familie und Freunde und solche Sachen. Kann ich durchaus bestätigen. Das sind wirklich wichtige Themen in meinem Leben. Vor allem, seit ich schwanger bin. Wie ich das wohl mal mache, wenn ich Mutter bin?
Aufgrund meines kleinen Geheimnisses ist mein Vomex-Konsum aktuell um 100 Prozent gestiegen. Die Übelkeit ist trotzdem nicht weg. Ich fühle mich krank, bin ich aber eigentlich nicht. Ich kann nicht schlafen, renne pausenlos auf die Toilette und mein systolischer Blutdruck war seit längerer Zeit nicht mehr dreistellig.
Das Gefühl ist ätzend. Die Kitteltaschen sind gefüllt mit homöopathischen und nicht-homöopathischen Mittelchen, Traubenzucker und Müsliriegel und die Wasserflasche klebt wie angewachsen unter meinem Arm. Fühle mich natürlich trotzdem nicht besser.
Patientin Käfer, 88 Jahre, geht nie zum Arzt
In der Notaufnahme lerne ich heute Patientin Käfer kennen. 88 Jahre alt und mit ihrem Auto heute Morgen auf eine Verkehrsinsel gebrettert. Mit 80 km/h. Die Sonne hat geblendet. Das Auto ist hinüber. Frau Käfer wird damit sicherlich nicht mehr fahren. Patientin Käfer nimmt keine Medikamente und hat keine bekannten Vorerkrankungen. Geht nie zum Arzt. Ist selbst Ärztin. Aha.
Sehr gepflegtes Äußeres, schicke Frisur. Klinische Untersuchung. Prellmarke Stirn, keine Commotiozeichen, Schädel sonst unauffällig, HWS eingeschränkt beweglich, deutlicher Druckschmerz linker Hemithorax ohne Gurtmarke, vesikuläres Atemgeräusch bds., Bauch weich, Darmgeräusche über allen vier Quadranten, Klopfschmerz über der gesamten BWS und LWS, Becken stabil, kein Klopfschmerz in den Nierenlagern, Schürfwunde linker Unterarm, Druckschmerz mit Schwellung am linken Handgelenk ohne Fehlstellung oder Krepitation, Prellmarke Scheinbeinvorderkante links, weitere Untersuchungen der Gelenke und Weichteile sind einer 88-Jährigen entsprechend (un)auffällig.
Die Patientin hat es eilig
Bis zur Beratung schaffe ich es nicht. Frau Dr. Käfer erzählt mir, was sie möchte. Nichts, einfach Nichts. Kein Röntgen, kein Ultraschall, kein EKG, Labor oder sonstige Utensilien aus meinem Fundus. Sie war auf dem Weg zu ihrer Tochter. Die hat Geburtstag und wird 70. Außerdem muss sie noch zwei Bekannte abholen und das Geschenk steht im Blumenladen. Der blöde Rettungswagen hätte sie lieber lassen sollen, wo sie war. Aha.
Frau Dr. Käfer hat heute noch viel zu tun. Da passt der Aufenthalt in der Notaufnahme nicht rein. Was, wenn die Rippen oder das Handgelenk gebrochen sind? Und die Schmerzen an der Wirbelsäule? Nur mal kurz einen FAST? Kommt nicht in Frage diese Untersucherei. Raubt Frau Dr. Käfer Zeit. Und überhaupt. Kein Ergebnis, keine Konsequenz. An irgendwas müsse man ja schließlich sterben. Hauptsache sie kann jetzt gehen.
Das Leben ist kurz
Die weiteren Untersuchungen würden, so denke ich, höchstens eine Stunde Zeit in Anspruch nehmen. Die möchte sich Frau Dr. Käfer nicht nehmen. Nein, nein, das Leben ist zu kurz. Mehr Zeit für ihre Tochter und Familie. Was ist schon eine Stunde im Vergleich zu weiteren 10 Jahren, frage ich? Nein, keine Überredungskunst der Welt stimmt sie um. Nein, ein Schmerzmittel möchte sie nicht. Nein, ein Taxi kann sie sich selbst rufen. Sie steht auf, richtet sich, unterschreibt gegen ärztlichen Rat und marschiert aus der Notaufnahme. Ihre Ausstrahlung zwingt mich, Haltung anzunehmen. Was ist schon ein bisschen Übelkeit?
Mehr Zeit für Familie und Freunde. Ja.
Diese Woche habe ich drei 24-Stunden-Dienste. Montag, Freitag und Sonntag. Mittwoch und Donnerstag die üblichen 12 Stunden. In der nächsten Woche gibt es dafür keinen Ausgleich. Opt-Out. Die knappen 100 Stunden diese Woche mache ich neben meiner wichtigen Freizeit und meiner noch wichtigeren Zeit für Familie und Freunde aus Spaß an der Freude nebenher. Generation Y.