„Geimpft? Nein, das ist meine Tochter nicht.“ In der Notaufnahme steht eine Mutter mit ihrer 3-jährigen Tochter Luna vor mir. Die Handflächen und Knie sind aufgeschürft, aus der Platzwunde an der Stirn tropft Blut, Luna ist von oben bis unten mit Dreck und Schlamm bespritzt. Ein Sturz vom Laufrad.
Das Mädchen ist tapfer. Wir säubern alle Wunden, die Platzwunde kann geklebt werden. Sie bekommt eine Spritze und eine Tapferkeitsurkunde überreicht. Ihre Mutter hält die Notfall-Arnika-Kügelchen schon bereit. Ich frage noch einmal nach dem Impfpass.
„Es gibt keinen. Luna hat keinerlei Impfungen erhalten. Ich bin Impfgegnerin. Ich hoffe, Sie informieren sich noch einmal, bevor Sie Ihrem Kind so etwas antun.“
Sie deutet auf mein mittlerweile deutlich sichtbares Bäuchlein unter den Scrubs. Auf Impfgegner treffe ich häufig, Patienten die aus religiösen Gründen Bluttransfusionen ablehnen oder Menschen, die die Wirkung von Antibiotika verteufeln. Patienten, die damit missionieren gehen, ausgerechnet bei Ärzten, habe ich bisher noch nicht getroffen. Ich schüttle den Kopf.
„Wenigstens die Tetanusimpfung?“
„Das habe ich. Mein Kind wird nach den Leitlinien der STIKO geimpft, wenn es auf der Welt ist. Sind Sie sicher, dass wir nicht wenigstens die Tetanusimpfung geben dürften?“
„Kommt nicht in Frage. Haben Sie vielleicht schon mal einen Patienten mit Tetanus gesehen?“
„Ja, das habe ich leider. Ich habe einige Zeit in Indien gearbeitet. Das verzerrte Gesicht, die erstarrte, verkrampfte Gestalt werde ich nie im Leben vergessen. Der Junge war 14 Jahre alt und ist daran gestorben. Er ist erstickt. Dort habe ich auch sehr viele Menschen mit Polio behandelt. Ausgestoßen aus der Gesellschaft, aufgrund ihrer körperlichen Verfassung zum frühen Tode verurteilt. Möchten Sie hierzu vielleicht auch einige Details hören? Wenn Sie die Impfung ablehnen, müssen Sie hier unterschreiben. Sie tragen die Verantwortung für ihr Kind, das die Entscheidung leider noch nicht selbstständig treffen darf.“
Da werde ich wohl wieder eine Stellungnahme schreiben müssen
Die Mutter schüttelt ihren hochroten Kopf, murmelt etwas von „Unverschämtheit. Immer das Gleiche. Unmöglich“ und unterschreibt den Wisch. Sie verlassen die Notaufnahme und Notfallschwester Super neben mir kriegt ihren geöffneten Mund nicht mehr zu. „Der hast du aber die Meinung gesagt. Warum machst du das nicht immer so? Stimmt das?“
„Ja.“ Aber trotzdem ärgere ich mich über mich selbst. Scheiße. Morgen werde ich mal wieder eine Stellungnahme schreiben müssen, weil ich meine Klappe nicht halten konnte. Das Thema regt mich mehr auf als sonst. Die Durchimpfungsraten in Deutschland werden schlechter. Überall steht es wieder in den Zeitungen: „Masern-Alarm in Deutschland!“
Es fällt mir zunehmend schwer, sachlich zu bleiben
Bisher habe ich mit den Eltern sachlich argumentiert. Aber jetzt werde ich emotional, weil ich weiß, dass mein eigenes Kind irgendwann auf diese Kinder treffen wird. Vielleicht ist mein Kind dann schon drei Jahre alt und geschützt. Vielleicht ist es aber auch erst sechs Monate alt und noch nicht geimpft, wenn es auf ein Kind trifft, das gerade die Masern hat.
Ich hoffe, mein Kind wird auch irgendwann Spaß daran haben, Laufrad zu fahren. Aber es wird einen Fahrradhelm tragen. Zum Schutz.