Im letzten Beitrag ging es darum, wie Ärzte und Apotheker idealerweise mit der Verschreibung von Präparaten umgehen sollten, die langfristig abhängig machen. Wie wir auf die verzweifelte Forderung „Ich brauche meine Tabletten!“ reagieren, schildere ich heute in einem Beispiel.
Dieses Beispiel wird vielleicht einige hier erstaunen, ist aber eigentlich ein ziemlich typischer Fall:
Frau Dormadalm, eine herzige, ältere Frau (über 80), seit Jahren schlafmittelabhängig, fing in den letzten Monaten an, zu steigern, was sich in der Patientenhistorie im Computer gut nachvollziehen lässt. Bei ihr sind wir jetzt bei „Stufe G“ angelangt: Der Arzt ist informiert über ihre Bezüge, reagiert aber nicht, sie hat von uns die Vorgabe, dass sie erst in frühestens einer Woche wieder Tabletten holen darf. Trotzdem steht sie heute hier.
Pharmama: „Frau Dormadalm, wie wir Ihnen das letzte Mal gesagt haben, als Sie wieder zu früh für Ihre Tabletten gekommen sind: Die nächste Packung können wir Ihnen erst in einer Woche geben.“
Frau Dormadalm: „Weshalb? Ich bin jetzt hier, da dachte ich, ich könnte die auch grad mitnehmen. Ansonsten muss ich extra wieder kommen.“
Pharmama: „Weil Sie zu früh dran sind. Wieder. Sie dürfen nur 1 Tablette maximal pro Nacht nehmen. So ist die Maximaldosierung und so hat es der Arzt auch aufgeschrieben.“
Frau Dormadalm: „Ich nehme ja auch nur eine Tablette pro Tag! Nur ganz selten nehme ich, wenn ich in der Nacht aufwache, noch eine halbe Tablette nach.“
Pharmama: „Das sollten Se aber nicht.“
Frau Dormadalm: „Aber der Arzt hat gesagt, ich könnte das.“
Pharmama: „Vielleicht, allerdings hat er das nicht so aufgeschrieben auf dem Rezept. Ich muss nach dem gehen, was da steht.“
Frau Dormadalm: „Ich brauche meine Tabletten!!“
Pharmama: „Wenn Sie wirklich nur selten eine halbe Tablette zusätzlich nehmen, dann haben Sie noch ein paar zu Hause. 5 oder so.“
Frau Dormadalm: „Ja, ich habe noch ein paar zu Hause, aber ich dachte, wenn ich schon einmal hier bin …“
Pharmama: „Tut mir leid. Am (Datum) gibt es die nächste Packung – das reicht ja bis dann.“
Frau Dormadalm: „Aber ich habe gerne ein paar als Vorrat zu Hause.“
Pharmama: „Tut mir leid, nein.“
Frau Dormadalm (jetzt laut werdend, damit das auch ganz sicher alle mitbekommen): „Jedes Mal, wenn ich meine Tabletten holen will, gibt das Diskussionen hier!“
Pharmama: „Das stimmt – weil Sie in den letzten paar Monaten jedes Mal zu früh hier waren.“
Frau Dormadalm: „Das ist doch nicht wahr! Ich nehme wirklich nicht mehr, als der Arzt gesagt hat!“
Pharmama: „Frau Dormadalm … wir halten jede Abgabe bei uns im Computer fest. Ich kann Ihnen gerne zeigen, wie Sie die geholt haben bis jetzt.“
Frau Dormadalm: „Was weiß ich, was Sie da im Computer schreiben! Das stimmt einfach nicht!“
Die Rechnung geht nicht auf
Vielleicht als Info für die Leser: In einer Packung sind 30 Stück drin. Sie ist die letzten paar Mal eine Woche zu früh dran gewesen, also nach 3 Wochen statt nach 4 Wochen, oder: nach je 21 Tagen. D.h. sie nimmt (wenn das mit den halben Tabletten stimmt) 9 Tabletten = 18 halbe Tabletten. Von 21.
Das ist nicht nur „gelegentlich“, das ist meistens. Da das jetzt das 4. Mal ist, dass sie zu früh zu uns kommt – und ja, jedes Mal mit dem Hinweis von uns, hat sie fast 40 Tabletten mehr genommen, als sie sollte. Ich rechne ihr das vor.
Frau Dormadalm: „Das stimmt doch nicht! Ich nehme da nicht regelmäßig mehr, nur ab und zu!“
Pharmama: „Vielleicht merken Sie nicht, wenn sie die halbe Tablette nachnehmen. Immerhin verursachen diese Tabletten auch Gedächtnisstörungen, da kann das durchaus sein …“
Frau Dormadalm: „Nein. Ich nehme nicht mehr, als ich muss!“
Pharmama: „In dem Fall sollten Sie noch welche zu Hause haben. Falls aber nicht: Telefonieren Sie mit dem Arzt und sagen Sie ihm, er soll uns ein Rezept faxen mit der höheren Dosierung, wenn das so von ihm gewollt ist.“
Frau Dormadalm: „Was muss ich machen? Ich will meine Tabletten? Wieso tun Sie immer so schwierig? Ich bin doch nicht abhängig!“
Pharmama: „Sie müssen gar nichts machen, wenn Sie noch Tabletten zu Hause haben und das reicht bis zum nächsten (Datum). Wenn Sie keine mehr haben, dann rufen Sie den Arzt an wegen eines neuen Rezepts.“
Frau Dormadalm: „Wieso ist das so kompliziert? Sie können sie mir doch einfach geben. Ich bin 80, was soll da groß passieren?“
Auf Dauer werden es mehr Tabletten
Leute: Sowas ist anstrengend, auch für uns in der Apotheke. Und endlos frustrierend. Und passiert öfter, als mir lieb ist. Bei den Schlaf- und Beruhigungsmitteln kann es vielleicht längere Zeit gut gehen, aber irgendwann kommt der Zeitpunkt, da fangen die Leute an, die Dosis zu steigern.
Das hat auch mit dem Gewöhnungseffekt zu tun, den die Mittel haben können. Dazu kommen die Nebenwirkungen, die eine dauerhafte Einnahme mit sich bringen kann: Gedächtnisprobleme, Auslösung von Demenz, erhöhte Sturzgefahr … ganz so ohne ist das nicht – vor allem die Folgeerscheinungen.
K/eine Frage des Alters?
Da ändert auch das hohe Alter nichts daran. Ich frage mich manchmal, ob diejenigen, die das Alter als Grund angeben, einfach nehmen zu können, was man will, später selbst auch so machen würden. Also: Ist es dir egal, was Du nimmst, weil Du ja (vielleicht) sowieso nicht mehr so lange lebst? Und: Ab wann soll das als Grund gelten? Ab 90? 80? 70?? 60??? – das wäre ja noch vor der Pensionierung. Und wenn man bedenkt, wie alt man heute werden kann – ab wann soll das denn „egal“ sein?