Bei der Behandlung der Fibromyalgie tappen viele Ärzte nach wie vor im Dunkeln. Forscher haben fast 3.000 Studien analysiert und daraus aktuelle Empfehlungen für die Therapie entwickelt. Neu ist dabei die Einteilung der Betroffenen in drei Patiententypen.
Auf englischsprachigen Online-Seiten bezeichnen Betroffene die Fibromyalgie schon einmal als „irritable everything syndrome“ – „alles ist gereizt“. Verständlich, denn schließlich leiden die Patienten an vielen Beschwerden. Tatsache ist, dass es bisher keinen körperlichen Befund gibt, weswegen auch das Risiko einer Verlegenheitsdiagnose verhältnismäßig hoch ist. Die klinische Diagnose beruht auf der Anamnese eines typischen Symptomenkomplexes, klinischer Untersuchungen und dem Ausschluss körperlicher Erkrankungen, welche diesen Symptomenkomplex ausreichend erklären könnten. Verabschiedet haben sich die Leitlinien von den „Tenderpoints“. Der Grund: Das „primäre Fibromyalgiesyndrom“ war wohl die einzige Erkrankung, bei der die Diagnose ausschließlich dadurch gestellt wird, dass mit dem Finger auf verschiedene Stellen am Körper gedrückt wird, ohne dass hierfür auch eine pathophysiologisch erklärbare Ursache dahinter steht. Die noch bis 2017 gültige deutsche S-3-Leitlinie schlägt statt Fibromyalgie die Bezeichnung Fibromyalgiesyndrom (FMS) vor.
Professor Gary Mcfarlane vom Institute of Medical Sciences der University of Aberdeen (Großbritannien) stellte im Juni 2016 auf dem EULAR-Kongress in London neue Empfehlungen vor, die zu einer Änderung der Leitlinien führen werden. Zu diesem Zweck wurden fast 3.000 Veröffentlichungen zur Behandlung der Fibromyalgie analysiert. Fibromyalgie soll als ein komplexes und heterogenes Krankheitsbild angesehen werden, das von einer veränderten Schmerzverarbeitung und anderen Aspekten geprägt ist. Die Behandlung soll so früh wie möglich erfolgen. In der Praxis ist dies leichter gefordert als getan. Höchsten Empfehlungsgrad haben aerobes Ausdauertraining, Amitriptylin, kognitive Verhaltenstherapie, multimodale und Spa-Therapie. Neu ist die Einteilung der Betroffenen in drei Patiententypen:
In einer retrospektiven Studie bei 1.111 Fibromyalgie-Patienten zeigte sich, dass 89 Prozent der Patienten zusätzlich zur muskulären Symptomatik unter chronischen Gelenkschmerzen leiden. 62 Prozent litten an Migräne, und bei 75 Prozent lag eine Depression vor. Gemäß der aktuellen deutschen Leitlinie kann FMS mit depressiven Störungen assoziiert sein. Das FMS ist aber nicht als depressive Störung zu klassifizieren. Die Behandlung erfolgte oft mit unspezifischen, stark wirksamen Medikamenten: 22 Prozent nahmen Opioide ein, und 19 Prozent Benzodiazepine. Eine Reihe neuer Erkenntnisse hat in den letzten Jahren auch die neuronale Bildgebung geliefert. So gibt es Hinweise, dass das Kleinhirn bei Patienten mit Fibromyalgie stärker als bei anderen Menschen in die Schmerzverarbeitung eingebunden ist.
Die Neurologin Dr. Nurcan Üçeyler der Universität Würzburg fand mit ihrem Team heraus, dass die in der Haut endenden Nervenfasern einiger Fibromyalgie-Patienten deutliche strukturelle Schäden aufweisen. An Üçeylers Untersuchung nahmen 35 Patientinnen teil: 25 mit Fibromyalgie und zehn Frauen mit Depressionen ohne Schmerzen. Untersucht wurden Sensibilitätsprüfungen, Hautstanzproben und elektrische Leitungsstudien. Bei einigen Fibromyalgie-Patientinnen sind die C-Fasern, die unter anderem für die Weiterleitung von Schmerzreizen zuständig sind, erheblich verändert. Die Zahl der Nervenfasern und ihre elektrische Erregbarkeit ist reduziert. Bei den depressiven Patientinnen ohne Schmerzsymptome fand sich kein Hinweis auf Strukturdefekte der Nerven. Ein Mix aus biologischen, psychischen und sozialen Faktoren verursacht nach heutigem Kenntnisstand die Fibromyalgie. „In der Hautstanzbiopsie war die Anzahl der kleinen Fasern deutlich reduziert – ein Befund, der typisch ist für Erkrankungen mit small-fiber-Beteiligung“, so Nurcan Üçeyler. In der Tat können die Studienergebnisse zu einem Paradigmenwechsel führen und das FMS zu einer „echten Krankheit“ zu befördern. Das war bisher nicht der Fall, da der Nachweis des krankmachenden Auslösers beziehungsweise einer fassbaren Pathologie fehlte.
In Deutschland leiden zwischen 0,7 und 3,3 Prozent der Bevölkerung an diesem Symptomenkomplex, der Neurologen, Psychologen und Rheumatologen gleichermaßen vor hohe therapeutische Anforderungen stellt. Ätiologisch und pathogenetisch herrscht noch Unklarheit, lediglich in der Symptomklassifizierung und in der symptomatischen Therapie ergeben sich Hoffnungsschimmer. Definierter Schmerz im Bewegungsapparat, psychische Veränderungen und multiple funktionelle Organveränderungen kennzeichnen diese Erkrankung, die meist bei Frauen im Alter von 30 – 50 Jahren auftritt. Hinzu kommen eine Vielzahl funktioneller Symptome, wie Schlafstörungen, kardiale und pulmonale Erkrankungen und eine ausgeprägte Stresssymptomatik.
Von der US-amerikanischen Zulassungsbehörde FDA sind zur Therapie des FMS die Wirkstoffe Pregabalin, Duloxetin und Milnacipran zugelassen worden, nicht jedoch von der europäischen Zulassungsbehörde EMA. In der deutschen S3-Leitlinie zum Fibromyalgiesyndrom werden Pharmaka empfohlen, ihr Nutzen bewertet beziehungsweise in Frage gestellt.
Quelle: S3-Leitlinie Fibromyalgiesyndrom
Das Opioidanalgetikum agiert auch als Serotonin-Noradrenalin-Reuptakehemmer und wird häufig in der Therapie des FMS eingesetzt. In der kommenden EULAR-Leitlinie wird seine Position bestärkt. Die derzeitige deutsche Leitlinie spricht weder eine Empfehlung aus noch rät sie ab.
Sowohl die deutschen als auch die neuen europäischen Leitlinien empfehlen Amitriptilin. Dies gilt jedoch ausschließlich für die Dosis von 25 mg pro Tag. Schmerz, Schlafstörungen und Fatigue-Syndrome werden wirkungsvoll gelindert.
Das mittelpotente Neuroleptikum Quetiapin linderte in einer Studie Schmerzen, Schlafstörungen, Depressionen und Angstzustände bei Fibromyalgie-Patienten mit schweren Depressionen. Mögliche Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme machen eine Nutzen-Risikoabschätzung notwendig. In den deutschen Leitlinien taucht das Pharmakon nicht auf. Mit anderen Pharmaka sind lebensbedrohliche Wechselwirkungen beschrieben, beispielsweise mit einigen Makroliden.
Milnacipran gehört wie Venlafaxin und Duloxetin zu den selektiven Wiederaufnahmehemmern von Serotonin und Noradrenalin im synaptischen Spalt (SSNRI). In der Indikation Fibromyalgie-Syndrom (FMS) ist Milnacipran seit 2009 in den USA zugelassen, seit einigen Monaten ist die Substanz auch in Deutschland verfügbar. Eine Cochraneanalyse beurteilt die Wirksamkeit jedoch nicht euphorisch, nur eine Minderheit der Patienten bescheinigt dem Psychopharmakon eine schmerzlindernde Wirkung. Insgesamt wurde die Wirkung an über 4.000 Patienten mit Fibromyalgie placebo-kontrolliert untersucht. In der deutschen Leitlinie erhielt die Substanz eine „stark negative Empfehlung“, in den USA ist es eines der wenigen bei FMS zugelassenen Pharmaka. Dennoch bewerten es die Empfehlungen zu den EULAR-Leitlinien genau wie Duloxetin zurückhaltend. Andere SSRI werden da großzügiger bewertet und zumindest bei Comorbidität empfohlen.
Cochraine führte ebenfalls eine Literatursuche nach klinischen Studien durch, die Gabapentin zur Behandlung neuropathischer Schmerzen oder von Fibromyalgie einsetzten. 37 Studien von befriedigender Qualität mit insgesamt 5633 Teilnehmern wurden analysiert. Das Pharmakon ist wirksam bei schmerzhafter diabetischer Neuropathie und beim Zosterschmerz. Bei Fibromyalgie hilft es jedoch nur einer Randgruppe von Betroffenen.
Das Hustenmittel Guaifenisin wird im Internet quasi als Wundermittel propagiert. Wer seinen Namen und Fibromyalgie eingibt, erhält mehr als 20.000 Zitate. Dr. Paul St. Amands ist ein amerikanischer Arzt, der selber an FMS leidet. Seine umstrittene Theorie besagt, dass Fibromyalgie ein Gendefekt ist, der verhindert, dass bestimmte Stoffe wie Phosphate, Calcium und Natrium ausreichend renal eliminiert werden. Die Folge soll eine kontinuierliche Ablagerung in Knochen, Muskeln, Sehnen, Bändern und dem Gewebe sein. Die Substanz Guaifenisin aus dem Pockenholzbaum bewirkt nach Dr. St. Amand, dass die Nierenfunktion normalisiert wird und Phosphate, Calcium und weitere Substanzen ausgeschieden werden. Kontrollierte Studien, u.a. von Bennett et al. bescheinigen dem Hustenmittel bei FMS Wirkungslosigkeit. Es fehlt eine seriöse Datenbasis, um Guaifenisin zur Therapie bei FMS einzusetzen.
Die Erkenntnisse zur Pathogenese und zur Strukturveränderungen des FMS haben sprunghafte Fortschritte gemacht, es bleibt zu hoffen, dass sich dies in der Diagnose und Therapie niederschlägt.