Normalerweise vergehen Tage ohne einen einzigen Notruf. Heute ist es anders. Es gibt sogar ein Motto: Dreierlei Variationen von Brustschmerzen, am Nachmittag dann noch ein Patient mit unregelmäßigem Ticken in der Brust. Und ein Finger (mit Diamantring) musste weg.
Chestpain Nr. 1
Der Tag hatte ganz normal angefangen, aber nach meinem ersten regulären Patienten stand dann eine leicht nervöse Pflegerin vom Empfang mit einem EKG in der Tür: „Chestpain, treatment room one“. Das kurz überflogene EKG zeigte allerdings einen AV-Block 2:1 mit einer Herzfrequenz von 32 bpm, da kann es einem schonmal schlecht werden.
Auf dem Weg zum Behandlungszimmer ging ich schon mal meine Dosierung von Atropin durch. Und traf zu meinem Erstaunen auf eine putzmuntere, orientierte Patientin mit einem Blutdruck von 190(!)/70 mit keinerlei Beklemmungsbeschwerden oder Atemnot.
Nach kurzer Diskussion mit dem anwesenden Ehemann stellte sich heraus, dass die Dame am gestrigen Tag und am Morgen in der Dusche das Bewusstsein verloren hatte: ohne jede Vorankündigung, aber dann mit Zittern, schaumigem Speichel vor dem Mund und Urinverlust. Beide Episoden hatten etwas über fünf Minuten gedauert.
Die Dame selber erinnerte sich an nichts, wie sie uns fröhlich versichert. Keinerlei Vorerkrankungen, keine Medikamente, kein Alkohol, alle Vitalwerte gut außer recht hohem Blutdruck und einem wirklich langsamen Herzschlag. Aber die Schwester hatte beim Symptom Synkope direkt ein EKG gemacht, und anhand dessen auf ein (durchaus vorhandenes) Herzproblem geschlossen. Daher also „Chestpain“. Allerdings klangen die Symptome dann doch eher nach Epilepsie. Der Krankenwagen wurde bestellt, um die verdutzte Dame zur Abklärung ins Krankenhaus zu fahren.
Chestpain Nr. 2 – okay
Vor der Tür wartete dann eine weitere Pflegerin auf mich: „Chestpain, treatment room two.“ Oha? Diesmal typische prekordiale Schmerzen bei einem Patienten mit langer Vorgeschichte. Der Patient hatte zuhause bereits mehrfach sein Nitrolingual-Spray genutzt, ohne nenneswerte Besserung, und das EKG sah verdächtig aus. Was auf den ersten Blick einfach aussah, stellte sich dann als ganz private Tragödie heraus: Der Patient weigerte sich standhaft, sich ins Krankenhaus bringen zu lassen.
Offenbar hatte er vor nicht allzu langer Zeit seine Frau verloren und wollte einfach nur zuhause sterben, er wolle keinen Eingriff mehr und man könne sowieso nichts für ihn tun. Angesichts seiner bereits in Tränen aufgelösten Familie brach auch der Patient in Tränen aus und die Sanitäter zogen sich schleunigst zurück. In solchen Momenten frage ich mich immer, wo in meinem endlosen Studium ich gelernt haben soll, solche Situationen zu lösen. Oder ob man so etwas überhaupt lernen kann.
Aber irgendwie kamen wir doch überein: Der Patient würde sich ins Krankenhaus zum Untersuchen fahren lassen, gewappnet mit einem Brief, der ausdrücklich invasive Maßnahmen und jegliche Wiederbelebungsversuche verbot. Und dem Versprechen, wenn man wirklich nichts für ihn tun könne, auf dem schnellsten Wege wieder nach Hause zu kommen. Ich konnte nur hoffen, dass die Kollegen im Krankenhaus meinen Brief und die Wünsche des Patienten ebenso respektieren würden.
Chestpain Nr. 3 – ernsthaft?
Nach diesem doch recht emotionalen Fall wollte ich mich eigentlich kurz schütteln, wurde aber direkt wieder abgefangen. „Chestpain, down in Rata room.“ Im Ernst jetzt? „Oh, and when you're done, there's another lady with chestpain in the waiting room!“ Das konnte doch nicht wahr sein. Und wo steckten eigentlich die Kollegen die ganze Zeit? Der nächste Patient war mit Beklemmungsgefühl auf der Brust (das er, wie er später zugab, schon seit fast einem Monat immer mal wieder gehabt hatte) und einem Blutdruck von 200/100 vom Fitnesstudio zum Arzt geschickt worden.
Sämtliche Symptome waren allerdings wie weggeblasen nach der ersten Dosis Nitrolingual, der Blutdruck normalisierte sich, und das EKG war völlig in Ordnung. Der Patient fühlte sich nach eigenen Angaben „fit für den nächsten Marathon“. Oh nein, Freundchen, nicht so schnell. Erst noch Aspirin, dann Blutabnahme, und dann erst nach Hause mit einer Verschreibung für Notfallmedikamente, einer dringenden Überweisung zum Kardiologen und der stikten Anweisung, sich ruhig zu verhalten und bei neuen Symptomen sofort ärztliche Hilfe aufzusuchen.
Wenigstens stellten sich die Schmerzen der letzten Patientin als harmloser Atemwegsinfekt heraus. Ah, und dann waren da ja noch die Patienten, die tatsächlich einen Termin hatten. Die waren allerdings meiner Verspätung gegenüber sehr verständnisvoll, schließlich hatten sich die Rettungswagen vor der Türe quasi gestapelt.
Noch ein Ticken in der Brust
Am Nachmittag wurde es dann wieder komplizierter. Ein 62-jähriger Patient, der vor etwas über einem Monat eine künstliche Aortenklappe erhalten hatte, stellte sich mit einem infizierten Serom am Oberschenkel vor. Die Infektion hatte seit dem Morgen auf fast den kompletten Oberschenkel übergegriffen. Der Patient war seit seinem Eingriff in AF (das unregelmäßige Ticken der Klappe machte seine Frau nachts wahnsinnig) und seit dem Beginn der Infektion hatte er ... nun, nicht direkt Brustschmerzen, aber das Ticken war viel schneller geworden, irgendwie fiel ihm das Atmen schwer und, oh, die Füße wurden auch dick.
Ich schilderte den Fall dem zuständigen Registrar über das Telefon. „And what makes you think this patient needs hospitalisation?“ Äh ... ich dachte, das wäre klar gewesen. Aber offenbar fand der Registrar die Lage nicht besorgniserregend und überdies meinen Akzent sehr erheiternd, und ich bekam das dringende Bedürfnis, durch den Höhrer zu kriechen und ihn für seine Uneinsichtigkeit und herablassende Art mit der Telefonschnur zu erdrosseln.
Aber damit wäre dem Patienten auch nicht geholfen gewesen und Telefone sind heutzutage ja eh meistens kabellos. Der Patient wurde also ambulant versorgt. Interessanterweise gibt es hier die Möglichkeit, Patienten ambulant IV Antibiotika zu verabreichen, was in Belgien allein für den Krankenhausgebrauch zur Verfügung steht.
Zum Schluss noch ein Finger ab
Insgesamt war der Krankenwagen heute fünf Mal zur Praxis gerufen worden. Neben meinen Patienten gab es noch eine Überdosis mit Paracetamol und einen amputierten Finger (trotz ganz offensichtlichem Schock war die Patientin dennoch in der Lage, herzhaft darüber zu fluchen, dass ihr Diamantring – mit einem echten schwarzen Diamanten – vom Finger geschnitten werden musste).