Die Psychiatrie ist eine sehr traditionelle Geschichte. Aber manchmal ist es auch Zeit, die alten Zöpfe mit neuer Farbe oder anderem Look zu erneuern. Das amerikanische RDoC-Projekt könnte so ein Ansatz sein.
Um das Jahr 2001 habe ich bei meinem damaligen Chef, Prof. Benkert, an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Mainz einen Termin in Sachen ADHS gehabt. Im Verlauf des Gesprächs habe ich mich im Scherz beschwert, dass das bisherige Klassifikationssystem von psychischen Störungen nach ICD bzw. DSM nicht mal ansatzweise beschreibt, was neurobiologisch und neuropsychologisch tatsächlich stattfindet. Außerdem würden die Schubladen der bisherigen Psychiatrie so jegliche Beschreibung von höheren Handlungsfunktionen im ADHS- oder Autismusspektrum, also Besonderheiten wie Emotionale Dysregulation/Affektive Labiität und die Kontextabhängigkeit von Symptomen, unmöglich machen.
Ich wollte eine Klassifikation auf der Grundlage neurobiologischer Funktionsabweichungen und Exekutivfunktionen/Arousal/Belohnungssysteme. Das, so argumentierte ich damals, würde doch viel mehr abbilden, was im Gehirn passiert und so vielleicht auch bessere Behandlungsoptionen ermöglichen.
Die Psychiatrie-Welt auf den Kopf stellen?
Die Antwort von Benkert war ehrlich und entwaffnend: Ich solle erstmal meine 20 Publikationen für meine Habilitation fertig bekommen, dann könne ich die Psychiatrie-Welt auf den Kopf stellen.
Aber die Vorstellung für meine Oberärzte 20 sinnfreie Wiederholungsforschungen zur Psychopharmakotherapie durchzuführen, war für mich damals nicht besonders attraktiv. Es wollte einfach nicht in meinen Kopf, dass ich erst diese Fleißarbeiten machen müsste, um dann kreativ andere Wege suchen zu können – vielleicht sogar eine neue „Psychiatrie-Welt“.
Natürlich hatte Benkert damals recht, obwohl er damals auch zustimmen musste, dass eine solche Klassifikation das bisherige Weltbild unseres Fachbereichs auf neue Beine stellen würde. Oder auf den Kopf.
Und dann doch: Ein neuer Ansatz aus den USA
Umso positiver überrascht war ich, als ich erfuhr, dass es jetzt tatsächlich eine solche Forschungsüberlegung gibt. Nicht aus Mainz, sondern den USA.
Die Research Domain Criteria Initiative (RDoC) versucht, auf einer dimensionalen Ebene Funktionsbeschreibungen für relevante Bereiche der Psyche zu liefern, die sich sehr stark an neurobiologischen und neuropsychologischen Kenntnissen und Paradigmen orientieren.
Sozialpsychiater werden jetzt völlig berechtigt aufschreien und die Ignoranz dieser biologischen Psychiatrie bemängeln, die die Kontextfaktoren und Funktionalitäten auszuschließen scheint. Gerade für mich als Psychotherapeuten ist der RDoC-Ansatz sicher auch nicht das Gelbe vom Ei, aber dennoch eine neue Ebene der Betrachtung, die ich durchaus interessant finde.
Natürlich könnte man sich hinreichend über die Einteilung und Auswahl dieser Bereiche streiten. Gerade im Bereich von Autismus könnte man beispielsweise hinterfragen, ob es sich denn aus der Wahrnehmung der Betroffenen überhaupt um eine Krankheit handelt. Noch fraglicher wäre dann, ob man die beschriebenen Abweichungen von einer wie auch immer zu definierenden Norm überhaupt behandeln sollte. Aber das ist ein anderes Thema.
Landkarte der mentalen Gesundheit
Erstmal geht es darum, eine Art Landkarte im Bereich der mentalen Gesundheit neu zu entwickeln und daraus völlig neue Beschreibungsebenen und somit auch Forschungsansätze herleiten zu können.
Wichtig ist, dass man nun versucht mehr oder weniger überprüfbare Bereiche auf sehr unterschiedlichen Ebenen – angefangen beim Genom, weiter mit der molekularen Ebene, Zellfunktionen, neuronale Netze, Physiologie, Verhaltensebene bis hin zu Selbstbeobachtung/Symptomlisten – zu liefern. Und nicht allein kategorial versucht, psychische „Störungen“ in eine diagnostische Schublade zu stecken.
Die dabei gewählten Unterbereiche sind derzeit folgende:
Ein neuer Blickwinkel für uns
Das Projekt läuft schon einige Jahre. Es ist keine Neuerfindung der Welt, aber eine andere Art, auf unser Fachgebiet blicken zu können. Nicht vollständig, aber aus einem anderen Bllickwinkel.
Gerade im Bereich der Spektrum-Störungen wie ADHS oder Autismus ist das aus meiner Sicht der bessere Weg als die kategoriale (deskriptive) Diagnostik und Einteilung, beispielsweise dann, wenn man die Begleit- und Folgestörungen und etwaige Verbindungen erkennen und untersuchen möchte. Oder die „Schattensyndrome“, also die nach ICD/DSM nicht vollständig ausgebildeten Störungen, genauer beleuchtet möchte. Die Schattensyndrome bilden bei unserer klinischen Arbeit eher die Masse als die Ausnahmen.
Vielleicht erlebe ich es also noch, dass man nicht mit Mühe und Not eine Diagnose zurechtschneidern muss, sondern dass man sich psychischen Störungen zunächst mit einer Beschreibung auf mehreren Ebenen nähern kann.