Während man als kleiner Famulus so neben dem erfahrenen Anästhesist hertrabt, scheint der Job als Narkosearzt oft sehr banal. Der Eindruck ist tückisch – die Routine und die ausgelassene Stimmung verleiten sicher manchen Neuling dazu, die Ernsthaftigkeit der Arbeit aus dem Blick zu verlieren. Doch auf den ersten Blick meint man, den Trott schnell mittanzen zu können:
Schema F
Patient kommt („Hallo Herr X, ich bin Y von der Anästhesie. Haben Sie Allergien?“), Patient kriegt einen Zugang („Es gibt ’nen kleinen Stich, bitte nicht wegziehen!“), Patient wird präoxygeniert („Über diese Maske kommt Sauerstoff – atmen Sie tief ein und aus.“), Patient wird narkotisiert („Das nächste Medikament kann etwas brennen.“), Patient schläft ein („Überlegen Sie sich schon mal ’nen schönen Traum und schlafen Sie gut“), Patient wird intubiert.
Während der OP hält man bestimmte Werte im Auge. Fällt während der Narkose der Blutdruck, spritzt man ein bisschen hiervon. Steigt er, gibt man etwas mehr davon. Nebenbei bleibt stets Gelegenheit für ein Schwätzchen, können Mails gecheckt und Nachrichten beantwortet werden.
Ist die OP vorbei, wird alles abgestellt. Ein lautes „Herr X, die OP ist vorbei, machen Sie mal die Augen auf! Tiiiief Luft holen!“. Die Kabel werden entfernt und der Tubus rausgezogen. Rüber geht’s in den Aufwachraum und von dort zurück in die Einleitung, wo der nächste Patient auf seine Narkose wartet. Hier beginnt die Choreografie von vorn.
Immer auf der Hut
Wie tückisch diese scheinbare Routine ist, wird mir mit einem großen Schreck sehr bewusst. Im einen Moment noch scheint alles wie immer. Es ist die zweite Narkose am Tag. Die Stimmung in der Einleitung ist ausgelassen.
Der Patient ist präoxygeniert, die Sauerstoffsättigung beträgt 100 Prozent. Der Zugang liegt, die Infusion läuft, die ersten Medikamente werden gespritzt. Dann plötzlich die irritierte Frage von Pflegerin Julia: „Oh Moment, liegt der Zugang para? Guck mal, wird der Handrücken dick?“ Ein schneller Check, ein Vergleich mit der Gegenseite: Nein, es ist alles okay.
Doch schon im nächsten Moment stellt sich raus: Nichts ist okay! Der Beutel füllt sich nicht, der Patient kann nicht beatmet werden. Er ist aber schon eingeschlafen und fällt innerhalb von Sekunden drastisch mit der Sauerstoffsättigung ab. In mir steigt die Panik, aber Ärztin Olga bleibt ruhig und inspiziert mit Pflegerin Julia das Gerät. Die Ursache ist zum Glück direkt gefunden. Ein offenes Ventil wird fest verschlossen und schon bläht sich der Beatmungsbeutel. Nach wenigen Hüben ist auch die Sättigung wieder in dem Bereich, der Anästhesisten ruhig schlafen lässt.
Was war hier passiert?
Ein Ventil war nach der Gerätewartung nicht geschlossen worden. Dieser Fehler lag so versteckt, dass er beim „Kann’s los gehen?“-Check niemandem aufgefallen war. Durch das Leck im System hatte die Präoxygenierung keinen Effekt, weshalb die Sättigung des Patienten so empfindlich auf die Apnoe reagiert hatte. Die Frage nach dem Zugang hatte im ungünstigsten Moment zusätzlich für Verzögerung gesorgt.
In der Nachbesprechung geht Olga mit mir sämtliche „Was hättest du gemacht, wenn?“-Szenarien durch. Auf wie viele Eventualitäten sie im Kopf vorbereitet ist, wird mir erst hier klar. Sie erzählt mir die Geschichte von Martin Bromiley. Die Frau des Piloten war während einer Narkose gestorben. Nach Aufarbeitung des Falls fordert er für die Anästhesie Sicherheitsstandards, wie sie in der Luftfahrt längst etabliert sind. Er macht deutlich, wie wichtig klare Strukturen, gute Kommunikation und ausreichend Alternativpläne sind.
Der allgegenwärtige Abgrund
Eine Narkose scheint wie der Tanz auf einem Seil. Entspannt ist es dann, wenn jeder Schritt sitzt. Sicherheitsnetze gibt es nur, wenn man sich selber vorher darum kümmert. Es reicht eine kleine Unachtsamkeit, eine Fehlinformation, ein Defekt oder eine Komplikation, um die Situation entgleisen zu lassen. Das Bewusstsein darüber ist entscheidend.
Letztens habe ich mich gewundert, warum viele Anfänger in der Medizin so unfreundlich empfangen werden. Mit den Beobachtungen von dieser Woche dämmert mir ein Erklärungsansatz. Die Routine, die ausgelassene Stimmung und die Kaffee-Päuschen verleiten sicher manchen Neuling dazu, die Ernsthaftigkeit der Arbeit aus dem Blick zu verlieren. Wenig Erfahrung kombiniert mit mangelnder Sorgfalt ergeben in der Patientenversorgung eine explosive Mischung. Es liegt auf der Hand, dass man Anfänger ausbremsen muss, die sich ungestüm und unerfahren auf ein Hochseil stürzen wollen.
Gleichzeitig bleibe ich dabei, dass Mentoren diese „Draufgänger“ von jenen Anfängern unterscheiden sollten, die eh schon mit schlotternden Knien vor diesem Seil stehen. Denn mit schlotternden Knien ist noch niemand heile auf die andere Seite gekommen.