Von meiner Schwangerschaft weiß noch keiner. Aber die Ausreden gehen mir so langsam aus. Wer freiwillig auf Station bleibt oder in der Notaufnahme arbeitet, fällt auf. Als Ärztin in der Weiterbildung zur Unfallchirurgin nicht in den OP zu drängen, irritiert. Und Kollegin Frischling ist diese Woche krank.
Ich kann also nicht einmal die Variante „Kollegin muss eingearbeitet werden“ wählen. Operieren in der Schwangerschaft: geht das? Ich habe mir die Unterlagen durchgelesen. Ganz schön aufwendig, aber sicher. In Saal 2 sind heute Knie-Arthroskopien und Weichteil-Eingriffe. Kein Röntgen. Junge Patienten. Ansonsten gesund. Also ab in den OP. Heute Nacht habe ich schlecht geschlafen.
Wieso muss ich jetzt schon dauernd auf die Toilette? Außerdem habe ich die ganze Zeit Hunger. Wenn ich nichts esse, kippe ich vom Stuhl. Und ich könnte mir so einen Rucksack kaufen, mit Trinkschlauch. Dann müsste ich nicht die ganze Zeit diese Wasserflasche mit mir tragen. Fehlt nur noch die Windel ...
Ich sollte mich nicht so anstellen, waren schließlich schon Millionen anderer Frauen vor mir schwanger.
Müsliriegel gegen den Schwindel
In der Umkleidekabine schiebe ich mir zwei Müsliriegel in den Mund. Das Essen verdrängt den Schwindel. Kompressionsstrümpfe anziehen, gegen die ätzende Kreislaufschwäche. Bleibt die Übelkeit. Ich bin nass geschwitzt, als ich im OP-Saal ankomme. Ich bin nicht krank. Fühlt sich aber so an. Oberarzt Orthopäde steht schon am Tisch. „Frau Müller, wo bleiben Sie denn? Ich habe schon angefangen. Was hat Sie denn aufgehalten?“ – „Äh, hm, murmel, Entschuldigung, murmel, lohnt es sich noch, dass ich mich wasche?“ – „Nein, Sie sind ja bleich wie die Wand. Was ist denn los? Ich bin hier fast fertig. Jetzt gehen Sie mal was trinken. Lassen Sie sich Zeit. Für Punkt zwei sind Sie dann aber pünktlich, ja? Wir rufen Sie dann an.“
Das passt mir ganz gut. Ich muss nämlich schon wieder ganz dringend auf die Toilette. Ich schleppe mich in die Notaufnahme. Vomex, bitte tu deinen Dienst.
Kollege Oberfeldwebel biegt um die Ecke. „Lieschen, könntest du mal kurz in Kabine 1? Da kam gerade der Rettungsdienst mit einem jungen Mann, der wohl über eine Mauer gesprungen ist. Ich bin aber noch in Kabine 3 mindestens 30 Minuten beschäftigt. Schick ihn doch schon mal zum Röntgen.“ Klar, sobald ich nicht mehr das Gefühl habe, mich übergeben zu müssen ...
Von hohen Ansprüchen und Mauern
Patient Kevin macht Parcours. Das ist dieser Sport, von der Mauer auf die Treppe, über das Dach, auf das Auto, über den Fluss, auf die Treppe, zurück zur Mauer ... Sowas eben. Die Mauer hat ihn schon eine ganze Weile gereizt. Er dachte, das wird kein Problem für ihn und hat sich vorbereitet und trainiert. Die anderen Parcourer schaffen die Mauer ja auch.
Tja, die Mauer war zu hoch. Der Calcaneus ist zerbröselt. Das Handgelenk ein Trümmerhaufen. Er hat Glück, dass die Wirbelsäule nichts hat. Warum die Leute sich immer was beweisen müssen?
Der OP ruft an. Ich kann kommen. Als ich in voller Montur am OP-Tisch stehe, steht mir der Schweiß auf der Stirn. Mein vegetatives Nervensystem macht alles, bloß nicht das, was es soll. Mir zieht es buchstäblich den Boden unter den Füßen weg. Ich schaffe es gerade noch, mich rechtzeitig auf den Boden zu setzen. Eine Platzwunde kann ich nicht auch noch gebrauchen. Der Anästhesist hält mir meine Beine in den Himmel, während Oberarzt Orthopäde auch die zweite Knie-Arthroskopie alleine durchführt.
Ich beschließe, mir nichts mehr zu beweisen. Der OP ist eine Mauer zu hoch für meinen schwangeren Körper. Scheiße.