Zwar ist meine persönliche Freizeitgestaltung immer noch sehr unspektakulär, trotzdem, langweilig wird es nicht. Heute im Programm: Notfallversorgung unter realen Bedingungen.
Am Montag traf ich auf zwei Kollegen, die nach Feierarbeit verschwörerisch tuschelnd im Eingangsbereich der Praxis standen. Auf meine neugierige Nachfrage wurde mir erklärt, dass man auf die Studenten warte.
Die drei, Chloe, Mark und Hope, sind mit dem, was ich bei mir als Studenten-Landverschickung bezeichne, im Rahmen des Rural-Gp-Trainings aus verschiedenen Ecken Neuseelands für sechs Monate in Dannevirke stationiert.
Ich war schon in den vergangenen Wochen immer wieder über die drei gestolpert, da sie nicht nur in der Praxis hospitieren, sondern auch abwechselnd mit den Hebammen, den Krankenpflegern in der Praxis, den Gast-Spezialisten im Krankenhaus, dem Rettungsdienst und dem mobilen Krankenpflegeteam unterwegs sind. Ausserdem engagiert sich zumindest Mark scheinbar in jedem Club der Stadt.
Ich beobachte erstaunt und fast schon neidisch, wieviel Zeit für die Integration der Studenten in den Praxisalltag aufgewendet wird: die verantwortlichen Ärzte schieben im Laufe des Tages immer wieder Teaching-Patienten ein, die erst von den Studenten gesehen und untersucht und dann mit dem Superviser besprochen werden. Dazu gibt es noch wöchentliche Seminare und praktische Kurse. Alles in allem meilenweit von der zu Hause so beliebten Annahme entfernt, dass sich die Studenten wichtige Fähigkeiten schon irgendwo abschauen werden.
Trotzdem geht die Integration nicht so weit, dass der Druck des Alltags auf die Studenten ausgeweitet würde: man gönnt ihnen ihre Schonfrist, bevor sie echtem Alltag ausgesetzt werden. Als Mark beispielsweise eines Vormittags nicht erscheint und nachmittags mit frisch erworbenem Sonnenbrand beichtet, dass sein neues Kanu am Morgen angekommen sei und er es habe ausprobieren müssen, freuen sich alle mit ihm über sein neues Spielzeug. Kein Wort des Vorwurfs: jeder, der die Gelegenheit gehabt hätte, hätte genauso gehandelt.
Für Montag Abend war noch einmal etwas ganz besonderes geplant: eine Rettungsübung unter realen Bedingungen. Die Studenten waren unter dem Vorwand eines abendlichen Vortrags in die Praxis bestellt worden. Begeistert nahm ich das Angebot an, mir das Ganze anzusehen.
Kaum waren sie angekommen, wurden die drei etwas verdutzten Studenten auf zwei Autos verteilt und wir fuhren aus der Stadt hinaus auf eine der weniger (oder noch weniger) befahrenen Landstraßen.
Dort angekommen, fanden wir Zeichen eines Autounfalls: Bremsspuren auf der Straße, ein Auto in der Böschung, ein weiteres im Graben. Alle sprangen aus dem Auto, und dann wurden die Studenten vorgeschickt mit dem kurzen Kommentar: "Ihr seid dran. Benehmt euch, als wäre das echt."
Und man hatte sich wirklich Mühe gegeben, das ganze so echt wie möglich wirken zu lassen, den Studenten wurde nichts geschenkt. Das Make-up war gut und die Schauspieler in den Wagen blieben durchweg in ihren Rollen: eine junge, schwangere Frau schrie sich die Seele aus dem Leib (und hielt das eine Dreiviertelstunde durch), während ihr zuerst noch ansprechbarer Nebenmann nach und nach in sich zusammensackte und das Bewusstsein verlor. Eine Frau mit Kopfverletzung fing unter den entsetzten Blicken der Studenten erst an zu würgen, und dann zu erbrechen (gut durchgekaute Spaghetti, wie mir nachher erklärt wurde), bevor sie ebenfalls bewusstlos wurde.
Und es wurde nicht an special effects gespart: die Zentrale war über die Übung informiert und schickte den (echten) Krankenwagen, die Feuerwehr rückte aus... und beteiligte sich an der Übung.
Staunend beobachteten ich und eine kleine Schar von Dorfbewohnern, die mittlerweile angelockt worden waren, wie die Feuerwehr Scheiben einschlug (um die Bergung zu erschweren, hatte man von allen Wagen die Türgriffe entfernt), die Paramedics zwei der Opfer durch den Kofferraum bargen und zuletzt das Dach eines der Wagen aufgesägt wurde.
Die Studenten waren von Anfang bis zum Ende beteiligt, nicht nur an der Erstversorgung und der Priorisierung der Opfer, sondern auch an den technischen Erwägungen zur Bergung und der Stabilisierung der Verletzten im Krankentransport.
Ich hätte unglaublich gerne mitgemacht. Ich fühle mich immer noch irgendwie betrogen, dass es so etwas in meinem Studium nicht gegeben hat. Eine gute theoretische Ausbildung und kleine Szenarien im Rollenspiel im Übungsraum sind eine Sache, aber manche Fragen stellt man sich wahrscheinlich vor Ort zum ersten Mal: Wie kommt man an die Verletzten heran, wenn die Tür nicht aufzukriegen ist? Reinklettern? Scheibe einschlagen? Wieviel Kraft braucht es eigentlich, so eine Scheibe zu zerschlagen, und wie macht man das, ohne zusätzliche Verletzte zu bekommen? Was mache ich in der Zeit, bis der Krankenwagen da ist, und in der ich keine Instrumente zur Verfügung habe?
Die Supervisoren hielten sich sehr im Hintergrund und ließen die Studenten improvisieren.
Am Ende traf man sich noch zu einer gemeinsamen Nachbesprechung auf der Feuerwache und ließ den Abend in der Cafeteria ausklingen...
Ich bin tief beeindruckt von dem unglaublichen Aufwand und dem Engagement aller Beteiligten an der Übung, es war eine großartige Teamleistung.