Das Leben in der Fremde besteht nicht nur aus Arbeit... womit vertreibt man sich also seine Freizeit?
Nicht nur in der Medizin, auch im alltäglichen Leben gibt es Unterschiede... manche mehr, manche weniger auffällig.
Was mir relativ schnell auffällt: trägt denn hier keiner Schuhe? Vor allem bei Kindern scheint festes Schuhwerk außerhalb der Schule eher die Ausnahme zu sein. Auf meinem Weg zur Praxis sehe ich morgens die Schüler in Uniform und Schuhen auf dem Weg zur Schule, aber auf dem Heimweg nachmittags hat sich die Hälfte bereits wieder der Schuhe entledigt. Auch in die Praxis kommen die meisten kleinen Patienten barfuß. Und manchmal auch die Eltern. Zuerst vermute ich einen kulturellen Hintergrund: die meisten meiner erwachsenen Barfußpatienten sind Maori. Und aus meinem "cultural awareness"-Ratgeber, den ich aufgetrieben habe, weiß ich: es gilt als Höflich, die Schuhe auszuziehen, wenn man als Gast ein Haus betritt. Recherchen vor der Eingangstür konnten meine These allerdings nicht bestätigen, keine Spur von den erwarteten Ansammlungen von Kinder- oder Turnschuhen. Dafür jede Menge Gummistiefel. Wenn die Farmer der Umgebung zum Arzt gehen, lassen sie ihre "Wellies" rücksichtsvoll vor der Tür und kommen auf Socken in die Sprechstunde. Der Trend setzt sich im Alltag fort: barfuß im Supermarkt scheint auch niemanden zu schockieren. Ich entschließe mich zuerst für einen Kompromiss und schlurfe in Flipflops (oder Jandals) Richtung Integration.
Der nächste Schritt wird die Freizeitgestaltung. Was treiben die Neuseeländer so in ihrer freien Zeit? Wenn man der Werbung glauben darf, dann stehen Jagen, Fischen und Camping wohl ganz oben auf der Liste. Die Kollegen sind leider keine große Hilfe: die Mehrheit ist mit Farmern verheiratet und hat Kinder, dementsprechend ist "Freizeit" ein sehr relatives Konzept. Auch die Möglichkeiten der Abendgestaltung sind eher spärlich: das nächste Kino befindet sich, wo auch sonst, im eine Stunde entfernten Palmerston North, und da die Neuseeländer auf ihre Lebensqualität wert legen, schließen Cafes und die meisten Restaurants spätestens um 18 Uhr, und auch die Pubs machen meist um 22 Uhr das Licht aus.
Aber was sonst? Laut Internet hat Dannevirke eine ganze Reihe an kleinen Clubs und Vereinen, die von Sport über Theater und gemeinnützige Arbeit alles abdecken... trotzdem beschließe ich, es erstmal mit einer Mitgliedschaft im Fitnessstudio zu versuchen, bevor ich mich den Landfrauen anschließe. Meine mühsam gesammelte Motivation verflüchtigt sich allerdings zusammen mit meinem Mut beim Antrittsbesuch: als ich das (recht überschaubare) Studio betrete, stehe ich plötzlich einer ganzen Wand von tätowierten Muskeln gegenüber, die mich schweigend mustert. Angemessen eingeschüchtert und beeindruckt wäre ich am liebsten ganz schnell wieder verschwunden, um mich auf der Couch mit etwas Schokolade zu trösten, aber Vorsatz ist Vorsatz... und die Schokolade taugt, sehr zu meinem Leidwesen, eh nicht (gut, ich bin auch ein Snob, was das angeht... Herkunft verpflichtet!). Glücklicherweise stellen sich die muskelbepackten Stammgäste des Studios als sehr freundlich heraus, und da die Schokolade nichts kann, teste ich mich durch die Neuseeländischen Süßigkeiten.
Die Abende bleiben also vorerst sehr beschaulich, aber ich muss sagen, es stört mich nicht. Die Arbeitstage sind für mich, trotz ausreichender Pausen und sehr angenehmer Arbeitszeiten, doch anstrengender als zu Hause, und die freien Abende geben mir die Gelegenheit, Dinge nachzulesen und aufzuarbeiten... und die ganzen Bücher und Serien nachzuholen, die noch auf der Warteliste stehen.
Der kleine Kater der Nachbarin hat mein Potential zur Old Cat Lady sofort erkannt und leistet mir dabei Gesellschaft.
Am Wochenende geht es dann aber raus: Wer Neuseelands weniger bekannte Naturwunder genießen will, sollte gut zu Fuß sein, da viele anders gar nicht zugängig sind. Dafür kommt man in den Genuss wunderschöner Landschaft und abseits der Touristenrouten kann man stunden-, manchmal tagelang wandern, ohne eine Menschenseele zu Gesicht zu bekommen.
Ausserdem besitzt Neuseeland ein gut ausgebautes Hüttennetzwerk, dass jedem, im Tausch gegen ein vorher erworbenes Token, zur Übernachtung freisteht. Ich bin verblüfft, wie gut das allein auf Vertrauen und Verantwortungsbewusstsein basierende System funktioniert: wer in der Hütte übernachtet, verpflichtet sich, sein Token in die dafür vorgesehene Box zu werfen und die Hütte wieder so zu verlassen, wie er sie vorgefunden hat.
Die Kollegen geben sich aber trotzdem große Mühe, mich zu integrieren, und vor allem in der Vorweihnachtszeit werde ich jedes Wochenende zu Veranstaltungen eingeladen.
Weihnachten ist eine besondere Angelegenheit in Neuseeland. Durch Film und Fernsehen stark von der euröpäischen und nordamerikanischen Weihnachtskultur beeinflusst, befindet es sich aber nunmal auf der Südhalbkugel und Weihnachten fällt in den Hochsommer. Die Kiwis versuchen es mit einem Spagat: die Schaufenster sind mit Kunstschnee, Eiskristallen und Rentieren dekoriert, aber gefeiert wird traditionell beim Barbecue am Strand. So sitzen dann auch ich und mein Besuch aus Deutschland an Heilig Abend in Shorts und T-shirts im Garten (der Vollständigkeit halber aber mit Nikolausmütze), während zu Hause der Regen fällt. Trotzdem, richtige Weihnachtsstimmung fällt mir bei 25°C schwer, und Plätzchen schmecken auch irgendwie nicht richtig... aber so hält sich zum Glück auch das Heimweh in Grenzen.