Was die Medizin bis heute nicht geschafft hat, ist einem Online-Magazin nun gelungen: In einem Artikel werden sämtliche Schmerz-Codes entschlüsselt. Wo es weh tut, gibt konkret Aufschluss über das jeweilige psychische Problem. Wirklich?
Die Schnittstelle von Körper und Psyche treibt die Menschen um: „Wie funktioniere ich?“ Leider kursiert das ein oder andere Gerücht zur Psychosomatik, das sich gewaschen hat. Der Wunsch nach klaren Antworten auf komplexe Fragen ist groß, das ist in der Medizin nicht anders als in der Politik.
Da MUSS man einfach klicken
Am 23. Februar 2017 erschien im Onlinemagazin www.wunderweib.de der Artikel „8 emotionale Schmerzen und was sie bedeuten“. Das Portal aus dem Hause Bauer Mediengruppe mit über 740.000 Abonnenten (!) bei Facebook schreibt dazu:
„Das Spannende: Der Ort der Schmerzen kann uns etwas darüber verraten, woher die psychische Belastung rührt.“
Oh, wow. Jetzt klick ich aber mal. Das klingt ja super spannend, würde Tante Lisbeth da sicher sagen. Das heißt ja, ich hab vielleicht Schmerzen, kein Arzt konnte mir bisher sagen, wie das kommt und warum das nicht weggeht, und nun steht hier vielleicht, woran das liegt. Also:
„Psychosomatische Schmerzen werden durch emotionalen Stress verursacht. Daher lässt sich sogar am Schmerzpunkt erkennen, welche Art emotionale Verspannung vorliegt.“
„Schmerzen im Nacken deuten auf Starrköpfigkeit hin.“ – aha.
Krass, cool. Also das guck ich gleich mal, was mich betrifft. Ich hab halt dauernd Nackenschmerzen. Ah, die stehen gleich auf Nr. 1:
„Schmerzen im Nacken deuten auf Starrköpfigkeit und mangelnde Flexibilität hin. Das Problem kann in einer zu festgefahrenen Denk- und Lebensweise liegen. Auch psychischer Druck und das Gefühl, es jedem recht machen zu müssen, können dahinterstecken.“
Ohje, das klingt ja gar nicht gut. Starrköpfig. Festgefahrene Denkweise. Psychischem Druck nicht gewachsen. Hab ich’s doch gewusst. Ich brauche gar keine Massage und keine Schmerztablette. Mein ganzes Leben ist ein einziger Katzenjammer. Aber was haben denn die anderen Schmerzpunkte zu sagen?
Ein Mix aus Ferndiagnose und Horoskop
„Emotionale Schmerzen in den Schultern sprechen dafür, dass das Leben zur Last geworden ist.“
„Die Wirbelsäule steht für Stabilität. Im emotionalen Sinne lassen sich psychosomatische Schmerzen hier häufig auf einen Mangel an Unterstützung zurückführen.“
„Schmerzen in der Hüfte lassen sich häufig auf Entscheidungsprobleme in Zukunftsaspekten zurückführen. Zudem kann das Gefühl, im Leben nicht voran zu kommen, Hüftschmerzen verursachen.“
„Der Ellbogen ist ein sehr flexibler Körperteil. Er steht für etwas Positives: Der Ellbogen zeigt Veränderungen im Leben und deren Akzeptanz an.“
… und die Erde ist eine Scheibe!
Ich erlaube mir an dieser Stelle, auf die Erde als Kugel zurückzukommen. (Ja, ich weiß, Ellipsoid.) So schön, so verführerisch es klingen mag, endlich Antworten auf den verspannten Nacken zu bekommen. Das ist die größte Quacksalberei. In den Artikel noch zu schreiben „unsere Psyche hat einen unterschätzten Einfluss auf unsere Gesundheit“ ist wirklich böse, denn dazu sagt Tante Lisbeth: Ja, aber das stimmt doch schließlich! Doch kann hier die Antwort nicht sein, den "unterschätzten Einfluss" mit solchem Nonsens aufzufüllen. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, das Ganze etwas sachlicher darzustellen:
1. Psychosomatik funktioniert nicht wie Bauernregeln
Bestimmte Symptom-Kombinationen weisen nicht auf spezifische innere Konflikte hin, wie der Artikel von wunderweib.de uns hier erklären möchte. Also „mir schmerzt das Bein – meine Beziehung ist nicht fein“ oder „Schmerzen am Becken – ich werde bald verrecken“ reimt sich zwar, hat aber mit medizinischen Zusammenhängen nichts zu tun. Habe ich mir nämlich gerade erst ausgedacht. Ach ja, dabei ist es gleichgültig, wie oft man man da „Psychosomatik“ darüberschreibt – es bleibt ein Hokuspokus. Also ich hab die Nase voll davon, das ist doch wirklich zum Kotzen, oder? Merke: Die mögliche Symbolik eines Symptoms kann nur gemeinsam mit dem betroffenen Individuum entwickelt und verstanden werden, weil es dabei um Subjektivität geht.
2. Es gibt keine gültige Tabelle für alle
Schmerzen des Bewegungsapparates haben sehr wohl einen Bezug zum psychischen Erleben. Jedoch entsteht die Bereitschaft, an bestimmten Beschwerden zu leiden sowohl durch biographische Ereignisse (zum Beispiel: Schmerzmuster von anderen Personen als Ausdrucksform emotionaler Belastungen kennenlernen und verinnerlichen), wie auch durch die biologisch-somatische „Schwachstelle“ z. B. durch vorhergehende Erkrankungen oder Operationen, die dann unter „Stress“, wie es der Artikel so schön nennt, schmerzt oder andere Symptome zeigt. Diese Entwicklungen sind individuell und können nicht in einer allgemein gültigen Tabelle gepostet werden. Äh, ach doch, gepostet werden können sie. Stimmt aber trotzdem nicht.
3. Was zuerst da war, ist meistens unklar
Eine Depression und Schmerzen treten gehäuft zusammen auf. Wer zuerst da war, ist oft nicht so ganz klar. Die Verarbeitung belastender Emotionen und die Schmerzverarbeitung beeinflussen sich im Gehirn sehr stark gegenseitig. Bei Schmerzbehandlungen sollte das psychische Erleben deshalb mitberücksichtigt werden. Übrigens: Menschen mit einer Depression erleben sich oft schuldig für die missliche Lage, in der sie sind. Ist natürlich blöd, wenn man dann liest: „Deine Nackenschmerzen kommen, weil du so starrköpfig bist!“
4. Einschränkungen definieren hilft
Hilfreich ist die Leitfrage: Woran wird man durch den Schmerz gehindert? In einer echten psychosomatischen Diagnostik würde man sich zum Beispiel angucken, was der Betroffene durch den Schmerz im Nacken nicht mehr tun kann. Nicht mehr arbeiten? Nicht mehr aus dem Bett aufstehen? Nicht mehr am PC sitzen? Nicht mehr wunderweib.de lesen? Hier ist eine ganz reale Schnittstelle vom Schmerz hin zur Bedeutung des Symptoms für den Betroffenen. Man versucht also die „Funktion der Dysfunktion“ (nach Stavros Mentzos) zu betrachten, wenn Sie verstehen, was ich meine.
Alles, was nach Horoskop klingt, deutet nicht auf Medizin hin
Schulter, Hüfte, Knie und Bein, die Ursachen können VIELFÄLTIG sein. Was wir über Psychosomatische Medizin wissen, ist vielleicht zu komplex für einen Lifestyle-Blog. „Schmerz-Codes“ zu entschlüsseln, ist nicht easy peasy.
Als Alternative so ganz falsche Behauptungen zu verbreiten, die durch hunderttausende Timelines flimmern, scheint mir nicht optimal zu sein. Noch eine Erkenntnis: Alles, was nach Horoskop klingt, deutet nicht auf Medizin hin. Und was selten verkehrt ist, wenn der Nacken, die Hüfte, der Ellenbogen, das Bein wehtut: den Hausarzt oder Orthopäden zu fragen! zuerst erschienen auf: Die Erde ist keine Scheibe Quellen: