Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass für ausländische Versandapotheken die deutsche Arzneimittelpreisverordnung nicht gilt. Verbände reagierten mit Fundamentalkritik, Patienten freuen sich. Pro und Contra eines gewichtigen Urteils.
Pandoras Büchse hat sich geöffnet. Nach einer Klage der Wettbewerbszentrale wurde das Oberlandesgericht Düsseldorf aktiv. Juristen wollten vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) wissen, inwieweit die heimische Rx-Preisbindung für ausländische Versender gilt. Sowohl der Gesetzgeber als auch ein gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe hatte zuvor keine Probleme, die Arzneimittelpreisverordnung (AMPreisV) auf EU-Versender auszudehnen. Jetzt stellte der EuGH klar, unsere Preisbindung verstoße gegen das Unionsrecht. Damit folgten Richter Anträgen der DocMorris-Anwälte und des Generalanwalts Maciej Szpunar. Welche Folgen hat das Urteil? Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg. Quelle: Wikipedia
Ein Blick auf Verbraucher. Je nach Preis eines Medikaments müssen Patienten fünf bis zehn Euro selbst berappen. Laut Umfragen von YouGov ärgern sich 54 Prozent aller Kunden bereits über fünf Euro als Obolus. Richter am EuGH erwarten jetzt günstigere Preise. Hartmut Deiwick, Geschäftsführer beim Apothekendienstleister Pharmahera, rechnet deshalb mit Änderungen im Markt. Viele Menschen würden schon geringe Rabatte mitnehmen und dann wohl künftig verstärkt im Ausland bestellen, so Deiwick. Diese Einschätzung teilt Konstantin Primbas, Inhaber der Versandapotheke Aponeo: „Wirtschaftlich wären Vergünstigungen bei rezeptpflichtigen Medikamenten auch für deutsche Apotheken absolut möglich. Nur dürfen wir halt bislang nicht.“ Auch DocMorris reagierte umgehend und wirbt ab sofort wieder mit Rx-Boni (siehe unten).
Gelder spielen noch in einem weiteren Zusammenhang eine zentrale Rolle. Standesvertreter hatten argumentiert, einheitliche Preise würden dazu beitragen, die flächendeckende Versorgung sicherzustellen. Dieser Meinung schlossen sich europäische Richter nicht an. Sie monierten fehlende Beweise und sahen darüber hinaus sogar Chancen. In Gegenden mit wenigen Apotheken entstehe ein Anreiz zur Niederlassung, weil Inhaber Medikamente teurer abgeben könnten, argumentierten sie. Damit werde die Notfallversorgung nicht gefährdet, sondern möglicherweise sogar verbessert.
In Luxemburg rechnen Experten keinesfalls mit einem flächendeckenden Apothekensterben. Im Gegensatz: Wettbewerbsfaktoren wie die individuelle Beratung vor Ort könnten dazu beitragen, dass Präsenzapotheken konkurrenzfähig bleiben, schreiben sie. Dazu gehören auch spezielle Leistungen rund um Rezeptur, BtM-Abgabe oder Medikationsmanagement. Parallelen zu Ärzten lassen sich nicht von der Hand weisen. Mediziner bieten seit Jahren IGeL-Leistungen für Selbstzahler an. Apotheker haben von diesen Möglichkeiten bislang kaum Gebrauch gemacht. Hier kommen beispielsweise Medikationsanalysen, verschiedene Blutuntersuchungen oder patientenindividuelle Verblisterungen in das Spiel.
Bei aller Euphorie hat die EuGH-Entscheidung auch ihre Schattenseiten, wie Standesvertreter kommentieren: Dr. Stefan Hartmann, Vorsitzender des Bundesverbands Deutscher Apothekenkooperationen (BVDAK), kritisiert die „Ungleichbehandlung im Vergleich zu den EU-ausländischen Versendern“. Konstantin Primbas wünscht sich ebenfalls gleiche Voraussetzungen für alle: „Wenn die Preisbindung jetzt gelockert wird, dann muss sie auch konsequent für alle Marktteilnehmer gelockert werden.“ Ansonsten droht er mit juristischen Schritten. „Wenn die Verbände nicht gegen die drohende Inländerdiskriminierung klagen, werden wir es tun“, so Primbas weiter.
Nicht nur für Apotheker hat das Urteil Folgen: Plötzlich eröffnen sich für GKVen neue Möglichkeiten, Gelder jenseits von Rabattverträgen einzusparen, befürchtet zumindest Theo Hasse, Vorstand des Apothekerverbands Rheinland-Pfalz. Er erwartet einen „deutlicher Rückschritt für den Patienten, der womöglich bald im Krankheitsfall nach dem niedrigsten Preis für sein verschriebenes Arzneimittel suchen muss“. Doch diese Sicht der Dinge scheint einseitig zu sein. Derzeit sind für den Patienten alle Rx-Medikamente nicht gleich billig, sondern gleich teuer. Nicht verwunderlich, dass Berliner Standesvertreter auch die Rx-Preisbindung befürworten. „Den Patienten schützt sie davor, dass seine Notlage durch überhöhte Preise ausgenutzt wird. Feste Preise machen außerdem das Sachleistungsprinzip der Krankenkassen erst wirklich möglich. Auch Steuerungs- und Kostendämpfungsmechanismen wie Zuzahlungen und Festbeträge sind ohne transparente und bundeseinheitliche Preise für rezeptpflichtige Arzneimittel nicht denkbar (…)“, schreibt die ABDA - Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände in einer Stellungnahme.
Verschieben sich größere Marktanteile an ausländische Versender, hat das womöglich für Chefs und Angestellte Folgen: Der Unternehmerlohn sinkt, und die Tarifgehälter erhöhen sich kaum mehr. Ob viele Jugendliche bei diesen Perspektiven Pharmazie studieren oder Fachschulen beziehungsweise Berufsschulen besuchen werden, erscheint fraglich. Bereits heute haben Apothekenleiter Probleme, Fachkräfte als Angestellte zu finden. Auch der Inhaberwechsel gelingt nicht immer reibungslos.
Bleibt als große Frage, welche Möglichleiten die Bundesregierung jetzt hat. Stellungnahmen liegen derzeit nicht vor. Der EuGH schrieb jedoch, dass er für nationale Alleingänge aus Sicherheitsbedenken keinen Spielraum sieht. Sitzen Politiker das Thema aus, rechnen Insider mit Klagen hiesiger Apotheker aufgrund von Benachteiligung. Früher oder später könnte auch in Deutschland die Arzneimittelpreisbindung fallen. Alternativ bleibt als Hintertürchen: "Eine denkbare Lösung wäre ein Verbot des Versandhandels mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln in Deutschland", erklärte ABDA-Präsident Friedemann Schmidt. Eine Hoffnung, die Patienten wohl nicht mit Apothekern teilen.