Ein Arzt muss im Notfall Hilfe leisten. Auch nachts in einer zwielichtigen Gegend. Auch dann, wenn der Patient ein stadtbekannter Schläger ist und man genau weiß, dass man in einen Hinterhalt gelockt wird?
Es ist Sonntagabend, kurz vor Mitternacht. Der Wind heult ums Haus und ich sitze drinnen in der Notdienstzentrale und bin froh, bei diesem Sauwetter nicht vor die Tür zu müssen. Im Fernseher läuft gerade die Wiederholung einer Wiederholung von irgendwas, was man nicht gesehen haben muss und ich bin eifrig damit beschäftigt, Däumchen zu drehen. Ab und zu kommt natürlich auch mal ein Patient, deshalb bin ich ja da, dafür werde ich schließlich bezahlt, aber bislang – dreimal auf Holz klopfen – ist es ruhig geblieben.
Dann döngelt das Telefon. Und noch bevor ich das Gespräch annehme, ahne ich schon, was mich erwartet: „Herr Doktor, kommen Sie sofort!‟
Na gut, mir wird mir wohl nichts Anderes übrig bleiben. Trotzdem frage ich zunächst mal nach, worum es eigentlich geht.
„Sie müssen sofort kommen und zwar allein“
„Kommen Sie sofort, Herr Doktor!‟, wiederholt der offenbar sehr aufgebrachte Anrufer und erzählt dann recht wirr und zusammenhanglos von schwersten Schmerzen und Luftnot. Es klingt jedenfalls alles sehr dramatisch. Vermutlich werde ich ihn ins Krankenhaus einweisen. Vielleicht sollte ich gleich bei der Leitstelle anrufen und darum bitten, einen Rettungswagen zu schicken, um keine Zeit zu verlieren.
Es ist sowieso ein Rätsel, weshalb der Anrufer nicht gleich die Notrufnummer gewählt hat: Hätte er das getan, dann wäre der Notarzt jetzt schon längst mit Blaulicht auf dem Weg – ich hingegen muss zunächst noch mühsam herausfinden, wie ich zu der abgelegenen Adresse überhaupt hinkomme. Aber so ist das halt. Für Grundsatzdiskussionen über unser Gesundheitssystem ist jetzt keine Zeit.
„Nein, bloß nicht ins Krankenhaus!‟, sagt mein Anrufer, „kein Krankenwagen! Kommen Sie unbedingt allein!‟
In diesem Moment werde ich misstrauisch. Wenn er auf keinen Fall ins Krankenhaus will, dann kann es ja so wild nicht sein! Oder doch? Es hilft nichts, ich muss hinfahren und mir vor Ort ein Bild machen. Also notiere ich mir Name, Adresse und Rückrufnummer ... und plötzlich halte ich inne. Da war doch was!
Wen kann ich um Rat fragen?
Meine Notdienstzentrale ist nichts anderes als der Nebenraum einer Landarztpraxis irgendwo in der Prärie. Ich habe den Dienst übernommen, weil ich mir ein paar Euro dazu verdienen will und außerdem damit meinem Kollegen einen Gefallen tue. Ich bin völlig alleine auf mich gestellt: Die Patienten rufen auf meinem Diensthandy an und ich kann sie entweder hierher bestellen oder zu ihnen rausfahren – das ist letztendlich meine Entscheidung. Ich kenne mich dementsprechend mit den örtlichen Gegebenheiten nicht aus und habe keinen Zugriff auf irgendwelche Krankenakten.
Inzwischen bin ich mir ziemlich sicher, dass hier irgendwas faul ist! Aber was? Und wen kann ich fragen, am Sonntagabend, kurz vor Mitternacht? Ich gebe mir einen Ruck und rufe Uwe an: einen Kollegen und Studienfreund, der sich vor zwei Jahren hier in der Gegend als Hausarzt niedergelassen hat.
Trotz der späten Stunde ist Uwe sofort hellwach. „Fahr da bloß nicht hin!‟, sagt er wie aus der Pistole geschossen. Und dann berichtet er: Mein Anrufer ist ein Drogenabhängiger und mehrfach wegen schwerer Körperverletzung vorbestraft. Jeder Hausarzt im Umkreis von zehn Kilometern kennt ihn. Immer wieder ruft er zu fortgeschrittener Stunde an und verlangt Hausbesuche. Und wenn man ihm nicht gibt, was er haben will, wird er mehr als unangenehm.
Darf ich den Hausbesuch verweigern?
Erst vor drei Monaten hat er einen Kollegen brutal zusammengeschlagen. Der Kollege war nach stationärer Behandlung seiner Schädelbasisfraktur wochenlang arbeitsunfähig, der Angreifer kam mit einer Bewährungsstrafe davon. Regelmäßig studiert er die Dienstpläne und sucht sich gezielt immer wieder neue und unerfahrene Ärzte aus, die seine Geschichte noch nicht kennen.
Das klingt jetzt sehr ermutigend. Was soll ich bloß tun? „Mach, was du willst!‟, sagt Uwe, „Aber fahr da auf gar keinen Fall alleine hin!‟
Danke für den Tipp! Ob ich den Hausbesuch verweigern darf? Das wäre unethisch. Und wenn sich herausstellt, dass der Patient wirklich schwer krank ist, kriege ich Ärger. Trotzdem habe ich keine Lust, mich verprügeln zu lassen! Ob ich Polizeischutz anfordern kann? In diesem Moment beneide ich den Notarzt, der hat zumindest immer einen Fahrer dabei.
Das ist es! Nach Absprache mit der Leitstelle rufe ich den Patienten zurück. Zwei kräftige Rettungsdienstler werden mich beim Hausbesuch begleiten. Außerdem stelle ich klar, dass ich keinerlei Betäubungsmittel dabei habe und auch keine entsprechenden Rezepte ausstellen werde. Wenn es denn wirklich so schlimm ist, dann muss er halt ins Krankenhaus.
Als Antwort gibt es wüste Verwünschungen. Wenn ich mich nicht traue, alleine zu kommen, solle ich doch bleiben, wo der Pfeffer wächst und morgen früh übergebe er die Sache seinem Anwalt.
Von dem habe ich zum Glück bis heute nichts gehört.