Dr. Chapeau zuckt etwas hilflos mit den Schultern und pustet sich resigniert eine Haarsträhne, die unter ihrer OP-Haube hervorgerutscht ist, aus dem Gesicht. Die zierliche Ärztin hat mir gerade mitgeteilt, dass sie starke Zweifel daran hat, ob der Eingriff, den sie soeben beendet hat, gerechtfertigt war.
Indikation: Morbus Horton. Diese Autoimmunkrankheit hat eine Entzündung großer und mittelgroßer Arterien zur Folge. Zunächst sind meist die Temporalarterien betroffen, was sich in Form von pochenden Kopfschmerzen äußert. Im Verlauf kann es durch Befall der Augenarterien zu vorübergehenden Sehstörungen und Erblindung kommen. Der typische Eingriff zu diagnostischen Zwecken ist eine Biopsie der betroffenen Arterie, bei unserer Patientin heute sogar beidseits; da ihre Symptome nicht eindeutig für die Erkrankung sprechen, möchte man sicher gehen dass man sie - wenn sie denn da sein sollte - auch findet. Biopsie bedeutet in diesem Fall: ein etwa zwei Zentimeter langer Schnitt kurz vor dem Ohrläppchen, das Aufsuchen der Arterie, ihr Abkappen, die Entnahme einer einen Zentimeter langen Probe.
Ein Eingriff unter Lokalanästhesie, verbunden mit nicht unerheblichen Schmerzen, Risiken, Narben. Und die operierende Ärztin ist nicht davon überzeugt, dass es ein sinnvoller Eingriff ist. Ich frage mich, wie häufig so etwas vorkommt; ein chirurgischer Eingriff entgegen der eigenen Überzeugung. In vielen Fällen womöglich aus wirtschaftlichem Kalkül, denn chirurgische Eingriffe werden gut vergütet.* In diesem Fall auf Wunsch und Drängen der Patientin. Dr. Chapeau hatte ihr gegenüber im Gespräch erwähnt, dass die 'Maladie de Horton' rein theoretisch, wenn auch unwahrscheinlich, ihre pulsierenden Kopfschmerzen verursachen könnte.
Die erste Ethik in der Medizin geht auf Hippokrates (ca. 460 bis 370AC) zurück, der als Begründer der Medizin als Wissenschaft gilt und schon zu Lebzeiten verehrt wurde. Der nach ihm benannte Hippokratische Eid ist ein ethischer Code mit sehr konkreten moralischen und praktischen Anweisungen zur Ausführung ärztlicher Tätigkeiten, eine Standesordnung. Zeitgemäß ist er nicht mehr; würden wir uns heute noch nach ihm richten, wäre Abtreibung verboten, junge Ärzte würden die Pflege und Fürsorge für ihre alternden Professoren übernehmen und die Chirurgie wäre nicht Teil des Arztberufes, sondern speziellen 'Handwerkern' überlassen. Gleichwohl sind in ihm bereits einige Punkte genannt, die bis heute an Relevanz nicht verloren haben: die ärztliche Schweigepflicht, das Verbot sexueller Handlungen an Patienten, die Behandlung ausschließlich zum Nutzen des Patienten. Ein moralischer Kompass im Arztberuf. Mittlerweile gibt es eine moderne Version des Hippokratischen Eids, die Genfer Deklaration* des Weltärztebundes. Diese ist in Deutschland Teil der Berufsordnung der Ärztekammer, so dass approbierte Ärzte dazu verpflichtet sind, sich an sie zu halten. Aktuelle ethische Streitfragen, die durch diesen Text unzulänglich geklärt werden, werden durch ergänzende Kommentare von den Ärztekammern aufgenommen. So gibt es heute beispielsweise Empfehlungen zur Sterbebegleitung.
Zurück zu Dr. Chapeau. Auch in Frankreich sind Ärzte dem 'Serment d'Hippocrate' verpflichtet. Ich frage mich, ob die Ärztin anders gehandelt hätte, wenn sie sich vor Beginn des Eingriffs noch einmal die moralischen Leitlinien vor Augen geführt hätte. Sicherlich handelt es sich in diesem Fall um eine Patientin, die nicht leicht zu führen war. Aber ist es nicht gerade dann unsere Verantwortung, die Patienten so aufzuklären, dass sie unsere Empfehlungen, die wir nach bestem fachlichen und moralischen Gewissen treffen, annehmen?
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir zu oft Dinge tun, von denen wir im tiefsten Inneren nicht überzeugt sind. Dabei glaube ich, dass unser Moralverständnis uns eigentlich sehr gut leiten könnte.*** Doch wir berufen uns lieber auf Vorgaben der Vorgesetzten und Leitlinien, die oft hilfreich sind, manchmal vielleicht aber auch als Ausrede benutzt werden, Dinge zu tun, die nicht zu unserem Bauchgefühl passen. Und machen uns vor, wir hätten keine andere Wahl. Dabei haben wir sie. Und dabei denke ich nicht nur an die Medizin. Was uns betrifft: Der Hippokratische Eid mag in seiner ursprünglichen Form veraltet sein. Interessant ist jedoch, dass die Idee, Ärzte in ihrem Handeln durch einen Kodex moralisch zu leiten, über 2000 Jahre überlebt hat. Und ja auch nicht neu ist, ist dies meiner Meinung nach doch die Essenz einer jeden Religion. Die aktuellen Versionen der Hippokratischen Schrift sind angepasst auf die heutige Zeit und nicht umsonst Teil unserer Berufsordnung. Lasst uns von der Weisheit ganzer Medizinergenerationen nicht nur fachlich, sondern auch moralisch profitieren und ihnen Leben einhauchen in unserem täglichen Handeln.
*sehr lesenswert hierzu ein Gespräch dreier Ärzte zu der in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern außerordentlich hohen Anzahl an Herzkatheter-Eingriffen:
**Genfer Deklaration des Weltärztebundes von 1948
Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufsstand gelobe ich feierlich:mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen.Ich werde meinen Lehrern die schuldige Achtung und Dankbarkeit erweisen.Ich werde meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben.Die Gesundheit meines Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein.Ich werde alle mir anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod des Patienten hinaus wahren.Ich werde mit allen meinen Kräften die Ehre und die edle Überlieferung des ärztlichen Berufes aufrechterhalten.Meine Kolleginnen und Kollegen sollen meine Schwestern und Brüder sein.Ich werde mich in meinen ärztlichen Pflichten meinem Patienten gegenüber nicht beeinflussen lassen durch Alter, Krankheit oder Behinderung, Konfession, ethnische Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politische Zugehörigkeit, Rasse, sexuelle Orientierung oder soziale Stellung.Ich werde jedem Menschenleben von seinem Beginn an Ehrfurcht entgegenbringen undselbst unter Bedrohung meine ärztliche Kunst nicht in Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit anwenden.Dies alles verspreche ich feierlich und frei auf meine Ehre.
***wärmstens empfohlen: TED Talks; generell, aber speziell zu diesem Thema
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