Eines kühlen Tages – ich war zu dem Zeitpunkt in einer Apotheke in der Peripherie einer großen Stadt beschäftigt – kam eine Dame in die Apotheke. Sie war gut 80 Jahre alt, gepflegt, und keine uns bekannte Kundin. Als sie an der Reihe war, bedient zu werden, sprach ich sie freundlich an und fragte nach ihren Wünschen.
Sie sah mich lange an, seufzte ein wenig und sagte „Ach wissen Sie junge Dame, Sie können mir doch nicht helfen.“ Dann wollte sie sich umdrehen und gehen. Irgendwas sagte mir, dass das keine gute Idee war und ich ging um den Verkaufstresen herum und berührte sie an der Schulter.
„Möchten Sie sich einen Moment hinsetzen, Sie sehen müde aus.“ Wieder blickte sie mich lange an. „Dankeschön. Ich bin wirklich sehr erschöpft. Kennen Sie mich?“ Jetzt wurde ich noch hellhöriger! „Nein, ich kenne Sie nicht. Darf ich fragen, wie Sie heißen?“ „Ich heiße ... ähm ... ich heiße ... ach ... glauben Sie das? Es fällt mir jetzt gar nicht ein! Ich bin ganz aufgeregt!“ – „Bleiben Sie ruhig, es ist in Ordnung. Ich bringe ihnen erst einmal ein Glas Wasser, dann fällt es Ihnen sicher wieder ein, ja?“ „Ja. Danke. Aber dann muss ich gleich wieder los nach Hause! Mein Mann kommt ja heute abend von der Arbeit und ich habe noch nicht gekocht!“
Der Verdacht
Jetzt wurde immer deutlicher, was ich unterbewusst von Beginn an gespürt hatte. Die Dame war dement und wusste weder wie sie heißt, noch höchstwahrscheinlich wo sie wohnt. Ich konnte sie auch nicht viel länger bei uns „festhalten“, denn sie wurde sichtbar unruhig.
Ich hatte eine Chance – wenn sie aus dem nahen Pflegeheim kommen sollte, dann wäre ihr Name vermutlich am Etikett ihres dünnen Jäckchens eingenäht. Als ich ihr das Wasser brachte, fragte ich sie, ob sie nicht die Jacke ausziehen möchte so lange sie sich noch ausruht, damit sie nicht so schwitzt – und Bingo. Sie reichte sie mir herüber und ich erhaschte einen schnellen Blick auf den Einnäher. „Kaiser, Leonore“ stand da und „Haus Waldesruh“. Ich sprach sie gleich mit Namen an „Ach, sind Sie nicht Frau Kaiser? Soll ich Sie nach Hause begleiten?“ – „Oh ja! Genau! Leonore Kaiser heiße ich! Und – würden Sie das machen? Das wäre wirklich nett von Ihnen!“
Erleichtert, aber ein fader Beigeschmack bleibt
Das „Haus Waldesruh“ war nur wenige Straßen entfernt, also sagte ich Frau Kaiser, dass ich nur noch schnell meine Jacke holen gehe und verschwand im hinteren Bereich der Apotheke, um schnell dort anzurufen. Die Pfleger auf Station 3 waren sehr erleichtert, denn sie hatten schon überall nach Frau Kaiser gesucht. Ich vereinbarte, dass ich mit ihr ins Pflegeheim laufe, und mir eine Pflegerin entgegen kommt, die sie in Empfang nimmt. Es klappte zum Glück alles gut, und ich bin abends wirklich selten so erleichtert in den Feierabend gegangen. Sie tat mir schrecklich leid und mit ihr alle Menschen in der gleichen Situation. Nicht mehr zu wissen wer man ist, wie man heißt und wo man wohnt – es gibt wenig schlimmeres.
Oft wissen die demenzkranken Menschen gar nichts mehr, außer dass sie einmal ein Zuhause hatten, in dem sie glücklich waren. Wo sich dieses Zuhause befindet ist ihnen schleierhaft, aber dass das Pflegeheim das NICHT ist, das ist ihnen bewusst. Also laufen sie weg, in der Hoffnung dass sie sich, sobald sie sich auf der Straße befinden, schon wieder daran erinnern werden. Diese Menschen steuern dann oft entweder Punkte an, von denen aus sie weiter kommen könnten – Bus- oder Straßenbahnhaltestellen gehören zum Beispiel dazu. Auch Apotheken werden gerne aufgesucht, denn das rote A ist ihnen irgendwie bekannt und wird mit freundlichen Menschen und Hilfe in Verbindung gebracht.
Eins und eins zusammen zählen
Was war es nun, was mich dazu gebracht hat aufmerksam zu werden, warum habe ich sie zu Beginn des Gespräches nicht einfach gehen lassen?
Erstens war sie für die Jahreszeit einfach zu dünn angezogen, wie jemand der nur mal kurz vor die Tür geht, um die Zeitung zu holen. Und zweitens hatte sie keine Tasche bei sich. Einen Schlüssel oder ein Portemonnaie hätte sie also in der Hand halten müssen, die waren aber leer. Die Schuhe sahen auch eher nach Hausschuhen aus. Alles in allem also eine Situation, in der die Alarmglocken angehen.
Zum Glück haben die Apotheken in der Bevölkerung einen so guten Ruf und die Mitarbeiter genießen ein hohes Maß an Vertrauen. Nur so lässt es sich erklären, dass immer wieder verwirrte Menschen bei uns Schutz suchen und auch bekommen. Allen Mitlesern lege ich ans Herz, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen, und lieber einmal „umsonst“ jemanden anzusprechen, der seit einer Stunde an der Bushaltestelle sitzt. Es könnte eure Oma sein.