Jeder Arzt ist verpflichtet, sich regelmäßig fortzubilden. Dazu gibt's Punkte, die man erwirbt, wenn man an Veranstaltungen teilnimmt. Ob man dem Vortrag aufmerksam lauscht oder dabei einschläft, ist egal. Hauptsache, man ist physisch anwesend. Wer aber zu Hause Fachliteratur wälzt oder im Internet recherchiert, bekommt keine Punkte.
Die Sonne ist soeben ganz malerisch über Bad Dingenskirchen untergegangen und im letzten Dämmerlicht stolpere ich über den Vorplatz, trete durch die Glastür ins Foyer der Stadthalle und wende mich hilfesuchend an die nächstbeste Person, die so aussieht, als ob sie sich hier auskennen würde.
„Ärztefortbildung?‟ – „Pieselbachsaal‟, sagte die kostümierte Dame, „erster Stock, links!‟
Ich komme ein paar Minuten zu spät. Ein bisschen abgehetzt bin ich, bin schließlich direkt von der Klinik gekommen und es war wieder mal ein langer Tag. Ich springe die Treppe hinauf und als ich oben die Tür öffne, stehe ich direkt hinter dem Dozenten, der bereits fröhlich doziert. Eine Entschuldigung nuschelnd drücke ich mich an ihm vorbei.
Erstmal die Teilnahmebescheinigung organisieren
Links an der Seitenwand erkennt mein geschulter Blick sofort das wichtigste Detail: den kleinen Tisch mit zwei Papierstapeln darauf. Der kleinere Stapel enthält die Teilnehmerlisten. Ich fummele einen kleinen Aufkleber aus meiner Brieftasche und klebe ihn auf das oberste Blatt. Daneben setze ich einen Unterschriftskrakel.
Der Aufkleber enthält meinen Namen und einen Barcode, der mich als Mitglied der Ärztekammer ausweist. Dann nehme ich mir eine Teilnahmebescheinigung von dem zweiten größeren Stapel. Die Dinger sind praktischerweise schon vom Veranstalter blanko unterschrieben, den Namen muss jeder selbst eintragen: Man könnte sich auch gleich zwei oder drei Exemplare einstecken, für die lieben Kollegen, die es heute leider nicht hierher geschafft haben, aber allein daran zu denken ist natürlich verboten.
Worum geht’s hier eigentlich?
Jetzt ein Blick in den Saal. Der ist voller Menschen, bis auf den letzten Platz besetzt. Hinten an der Rückwand stehen mehrere Gestalten, die keinen Sitzplatz mehr gefunden haben. Jetzt zwei Stunden lang stehen, nach einem langen Arbeitstag? Da muss ich wohl durch! Was tut man nicht alles für sein Seelenheil? Die Teilnahme an Fortbildungen ist Pflicht – zumindest für Fachärzte. Ärzte in Weiterbildung können ein freiwilliges Fortbildungszertifikat erwerben (zumindest in manchen Bundesländern), das wird von Chefärzten nicht nur bei Bewerbungen gerne gesehen.
Der Dozent trägt eine Fliege zum schwarzen Sakko und fährt fort zu dozieren. Es geht um ... weiß ich nicht, ich bin zu spät gekommen, habe die Einführung nicht mitgekriegt und jetzt verliert sich der Vortragende in den speziellsten Details seines Spezialgebietes. Interessiert mich das?
Zweihundert Stunden Fortbildung muss ein Facharzt alle fünf Jahre nachweisen (streng genommen sind es sogar zweihundertfünfzig – aber fünfzig davon bekommt man ganz automatisch für „Selbststudium‟ bescheinigt), im Jahr sind das vierzig Stunden und im Prinzip stehen einem dafür fünf arbeitsfreie Tage zu. Es soll sogar Kollegen geben, die diesen Fortbildungsurlaub regelmäßig nehmen können. Wer ganz, ganz clever ist, der fliegt sogar zur Fortbildung sogar nach Mallorca.
Häppchen wären jetzt nett
Ich hingegen habe heute noch nicht einmal meine mir gesetzlich zustehende Mittagspause nehmen können. Mein Magen knurrt immer lauter. Ob es wohl Häppchen gibt? Kaffee, Saft, Brezeln oder Brötchen? Leider Fehlanzeige.
Immerhin trägt ein Angestellter einen Stapel Stühle herein. Prima! Im Sitzen gelingt es mir sogar, dem Vortrag zu folgen. Es geht ums Herz. Professor Waschmaschinewski ist Kardiologe. Spezialisiert auf ... ach, was weiß ich! Wobei ... Frau Brunxmüller von Zimmer zwölf, die hatte doch letztens so ein merkwürdig auffälliges EKG. Bestimmt weiß der Herr Professor, was ihr fehlt.
Endlich Zeit, in Ruhe zu googeln
Ob ich ihn nachher in der Pause mal fragen könnte? Zur Zeit doziert er erstmal weiter über sein Steckenpferd. Frau Brunxmüller hat aber etwas ganz anderes. Aber was? Ich packe mein Handy aus – natürlich lautlos gestellt – und fange an zu googeln. Erstaunlich, was man heutzutage im Netz alles findet!
Und wo ich schon einmal dabei bin, könnte ich doch auch gleich nachschauen, was mit Herrn Ommelowski los ist. Dessen Laborbefunde waren irgendwie seltsam ... passt alles nicht zusammen, aber ich habe ja die größte Bibliothek der Welt in der Tasche dabei und ... wirklich spannend, was es da alles gibt.
Während Professor Waschmaschinewski immer noch redet, überfliege ich inzwischen rasch zwei Übersichtsarbeiten, die zu Herrn Ommelowskis Laborkonstellation passen. Warum kriege ich dafür eigentlich keine Fortbildungspunkte?
Plötzlich verspüre ich große Müdigkeite. Ich lehne mich gemütlich zurück, schließe die Augen und träume von den Fortbildungspunkten, die ich gerade im Schlaf erwerbe.