Ich sehe die Angst bei Herrn Karl. Sein Gesicht ist wutentbrannt, verzerrt, hochrot und die Augen treten vor Anspannung hervor. Seine Hände sind zu Fäusten geballt und zittern. Ich rieche die Angst, er schwitzt. Und ich höre die Angst. Er brüllt mich auf der Station an. Mitten im Flur. Seine Frau stirbt.
Sie hat so viele Krankheiten, dass der Herold nicht ausreicht, um sie zu beschreiben. Schon mitgebracht. Herz, Lunge, Venen, Zucker, Blutgerinnung, Niere. Schlecht. Sehr schlecht. Und dann kamen die Fraktur, der notwendige Duokopf, die OP und die Narkose. Sie hat eine Patientenverfügung und vor der OP klare Anweisungen gegeben. Keine Dialyse, keine Reanimation, keine lebensverlängernden Maßnahmen.
Das Herz arbeitet insuffizient. Kardiologen, Nephrologen, Anästhesisten. Alle waren da und haben verbessert, was zu verbessern ist. Aber Frau Karl schafft es nicht. Schon vor dem Sturz war ihr Leben ein Marsch auf ganz dünnem Eis.
Das weiß Herr Karl. Ich habe vor der OP lange mit ihm über diese für seine Frau lebensgefährliche Situation gesprochen. Eigentlich weiß er das. Aber nur eigentlich. Deshalb schreit er mich jetzt an, ich lasse seine Frau „verrecken“. Da stehen zehn weitere Angehörige anderer Patienten. Alle Versuche, dieses Gespräch im Patientenzimmer oder im Arztzimmer zu führen, sind gescheitert.
Er hat mich auf dem Flur abgefangen. Er lässt mich nicht zu Wort kommen. Er schreit und flucht und ich bin die Zielscheibe. Ich bin herzlos, unfähig, ein Metzger und sollte diesen Job nicht machen dürfen. Ich bin kurz davor, zurückzuschreien. Aber ich warte, bis die Frage kommt. „Warum zum Teufel tun Sie nichts?“
„Weil wir nichts mehr weiter tun können.“ Schwester Marianne stellt sich an seine Seite und schüttelt den Kopf. „Herr Karl, jetzt reicht es. Sie wissen, dass sie recht hat. Ich gehe mit Ihnen zusammen in das Zimmer Ihrer Frau.“
Als ich mich noch mal umdrehe, sehe ich, dass nun statt des großen breitschultrigen, angsteinflößenden Mannes ein gebücktes, zitterndes Häufchen Elend in das Zimmer seiner Frau begleitet wird.