Günther ist tot. Er war Bluter. In den Achtziger Jahren Bluter zu sein, das war oft ein Todesurteil. Fast die Hälfte aller Hämophilie-Patienten waren damals mit HIV-verseuchten Blutprodukten behandelt worden.
Neulich hatten wir Klassentreffen. Eigentlich mag ich sowas ja gar nicht. Man kennt das: Der Thomas hat ganz doll Karriere gemacht und fachsimpelt mit dem Andreas über die besten Hedgefonds und sein Golf-Handicap. Der Klaus ist immer noch derselbe geblieben, war damals schon eine Niete, jetzt isser beim Finanzamt.
Und Claudia? Was ist aus Claudia geworden, die, auf die wir alle scharf waren? Natürlich verheiratet, mit irgendeinem Trottel, der ist weder attraktiv noch hat er Geld, da hätte sie auch mich nehmen können. Hat sie aber nicht und der Trottel hat jetzt zwei Kinder mit ihr. Aber es läuft gerade nicht so gut, wahrscheinlich läuft es auf eine Scheidung hinaus. Hab ich dann doch noch Chancen? Obwohl ich weder weiß, was ein Hedgefond ist noch ein Golf-Handicap vorweisen kann?
Günther war früher der Mädchenschwarm
Damals hatte ich keine Schnitte. Vor allem nicht gegen Günther. Günther war der Hansdampf-in-allen-Gassen, der Schwarm aller Mädchen, der immer ganz tolle Sachen machte und dann auch noch ein ganz gutes Abi hingekriegt hat und nach Paris gegangen ist, um an der Sorbonne zu studieren. Was er da studiert hat? Wohl irgendwas Kreatives. Irgendwas mit Kunst. Was man halt so macht in Paris. Und wie geht es ihm jetzt?
„Günther ist tot!‟, sagt Claudia.
Wie bitte? Vor Schreck lasse ich fast mein Glas Prosecco fallen.
„Er ist schon vor einigen Jahren gestorben. In Paris!‟, fährt Claudia fort.
Und woran? Claudia zuckt mit den Schultern. „Eine Grippe oder so, heißt es ...‟
Eine Grippe? Kann eine Grippe einem jungen Mann den Garaus machen? Kann sie, klar. Aber wäre doch eine extreme Seltenheit.
„Eine verschleppte Grippe vielleicht? Oder auch eine Lungenentzündung?‟, Claudia plinkert mich mit großen Augen an. Ihre Augen sind noch genauso groß wie damals. Und jetzt dämmert mir allmählich, was Sache ist.
Und dann fiel es mir wieder ein
Günther hat es mir damals erzählt, im Vertrauen. Dass er nicht zur Bundeswehr brauchte. Er wurde ausgemustert, weil er Bluter war.
In den Achtziger Jahren Bluter zu sein, das war für viele Betroffene ein Todesurteil.
„Er hatte Aids, nicht wahr?‟, fragt Claudia.
Hmm. Das fällt ja im Prinzip unter die Schweigepflicht. Aber wenn sie es eh weiß? Die Nachricht scheint ja eh längst die Runde gemacht zu haben. „Woher denn eigentlich?‟, fragt Claudia weiter.
Menschen, die an Hämophilie leiden, bekommen regelmäßig Gerinnungsfaktoren, die aus dem Blut gesunder Spender gewonnen werden. Also aus dem Blut von Menschen, die genügend Gerinnungsfaktoren haben, was sonst noch mit ihnen los ist, ist ein anderes Thema. Natürlich werden alle Blutspender – und alle Blutspenden – auf Infektionskrankheiten getestet. Aber man kann nur das testen, was man kennt. Das HI-Virus wurde 1983 entdeckt. Bis es geeignete Testmethoden gab, dauerte es. Zwar gab es Verfahren, um Blutprodukte mit Hitze zu behandeln und dadurch die Viren zu inaktivieren, aber diese Verfahren waren teuer und wurden in Deutschland erst ab 1985 flächendeckend eingesetzt.
Aber wieso wurden derart viele Bluter infiziert?
Claudia runzelt die Stirn. „Aber war Aids damals in Deutschland nicht noch sehr selten?‟, fragt sie. Das ist richtig. Nun werden die Blutprodukte für Hämophilie-Patienten meist nicht aus Vollblut, sondern aus Blutplasma gewonnen. Im Gegensatz zu Blutspenden werden Plasmaspenden oft durch kommerzielle Firmen durchgeführt. Die Spender erhalten ein bisschen Geld. Plasmaspende-Zentren findet man oft da, wo die Leute sind, die dringend Geld brauchen, noch Fragen?
Claudia zuckt mit den Schultern.
Heute gibt es aufwändige Sicherheitsvorkehrungen. Drogenabhängige und Angehörige anderer Risikogruppen werden nicht zur Spende zugelassen. Das Plasma wird über mehrere Monate tiefgefroren gelagert und die Spender anschließend nochmals auf HIV und andere Krankheiten getestet. Erst wenn diese Tests negativ ausfallen, wird das Plasma verwendet. Zumindest sollte es so ablaufen.
Damals war es anders. In den Achtziger Jahren wurde ein großer Teil der Blutprodukte aus den USA importiert und dort haben auch Angehörige von Risikogruppen Plasma spenden dürfen. Das Plasma wurde „gepoolt‟, also auf gutdeutsch zusammen geschüttet. Wenn also ein HIV-infizierter Spender dabei war, war die ganze Charge verseucht.
Und damit war die Geschichte noch nicht zu Ende
Claudia schüttelt den Kopf. „Wie furchtbar!‟, sagt sie.
Und der eigentliche Skandal fing damit gerade erst an: Auch als das Virus und sein Übertragungsweg bekannt geworden war, es geeignete Testmethoden und somit Möglichkeiten gab, Infektionen zu verhindern, haben manche Firmen wider besseres Wissen zunächst einmal weiter gemacht wie bisher und damit aus Profitinteressen den Tod von Menschen in Kauf genommen.
Das hat 1994 ein Bundestags-Untersuchungsausschuss bestätigt. Die Opfer wurden entschädigt. Heute gibt es Medikamente, die einem HIV-Infizierten ein zumindest physisch fast normales Leben ermöglichen.
Für Günther – und für viele Andere – kam aber jede Hilfe zu spät.