Wie sieht so ein typischer Tag für einen neuseeländischen Allgemeinmediziner (GP) aus? Und was machen die ganzen anderen Mitarbeiter? Vieles ist vertraut, anderes nicht ... noch nicht.
Trotz Muskelkater trat ich hochmotiviert zu meinen Einführungstagen an. Auf dem Programm standen eine Führung durch die Praxis, die ich ja schon in der Woche zuvor erhalten hatte, weil ich es nicht abwarten konnte, einer Einführung in die Arbeitsabläufe des Teams, einer weiteren Übungsstunde bzw. ein ganzer, extra dafür vorgesehener Nachmittag mit dem Computerprogramm, eine Lektion in Health & Safety und ein Gespräch mit Sharon, der Geschäftsführerin.
Die „walk-in clinic“
Ein normaler Tagesablauf in der Praxis sieht folgendermaßen aus: Vormittags, von 9–12 Uhr, findet die sogenannte „walk-in clinic“ statt, eine Sprechstunde für akute Fälle ohne Voranmeldung. Die Patienten werden von den Sekretärinnen am Empfang auf zwei Teams verteilt, jeweils bestehend aus mehreren Ärzten und mindestens zwei Pflegern. Nachmittags werden feste Termine vergeben, für Sprechstunden und kleinere Eingriffe.
Bevor die Patienten in der Vormittagssprechstunde den Arzt sehen, wird von den Pflegern schon einmal eine Anamnese gemacht und eine Voruntersuchung: Blutdruck und Temperatur werden gemessen, je nach Symptomen auch Sauerstoffsättigung, peak flow, Gewicht, Größe oder anderes, oder auch schon eine Urinanalyse veranlasst oder ein EKG geschrieben.
Und ab nach Hause
Und dann, je nach Ergebnis der ersten Überprüfungen, wird der Patient dann auch manchmal wieder nach Hause geschickt, entweder mit der Bitte, sich einen regulären Termin geben zu lassen, da es ein chronisches und kein akutes Problem sei, oder mit einer sogenannten „standing order“: einer nach festem Protokoll ausgegebenen Standardverschreibung.
So gibt es z. B. für per Stick verifizierte Blasenentzündung ohne Fieber, Rückenschmerzen und ohne bekannte Vorerkrankungen und Allergien eine Woche Nitrofuran. Oder für Kinder mit Temperatur unter 38,5 °C, weniger als drei Tage und ohne andere Symptome als einer laufenden Nase Paracetamol und die Anweisung, sich wieder vorzustellen, wenn die Symptome sich in 72 h nicht verbessern oder sich das Kind schlechter fühlt. Basta.
Wer allerdings nicht so eindeutige oder eindeutig ernste Symptome zeigt, wird auf die Liste eines der Ärzte gesetzt.
Der fügsame Patient
Ehrfürchtig hörte ich mir die Erklärungen an und staunte über die Selbstverständlichkeit, mit der die Patienten das System akzeptieren. Zu Hause würde so ein Verfahren wahrscheinlich zu einer Revolte im Wartezimmer führen. Aber etwas neidisch auf die überaus selbstständigen und sehr gut ausgebildeten Pfleger war ich schon.
Überhaupt übernehmen die Pfleger hier viele Aufgaben, die zu Hause strikt in die Hände der Ärzte gehören: Mit der entsprechenden Zusatzausbildung übernehmen die Pfleger die Betreuung von chronischen Krankheiten wie COPD oder Diabetes (einschließlich der Insulin-Einstellung), protokollieren EKGs und dürfen sogar eigenständig gewisse Medikamente verschreiben und Krankschreibungen ausstellen.
Angesichts von so viel Selbstständigkeit des Pflegepersonals fragte ich mich insgeheim, was denn wohl von mir erwartet würde.
Moralisch einwandfreies Verhalten und Jeans-Verbot
Die Frage wurde in dem Gespräch mit der Geschäftsführerin zumindest teilweise beantwortet: uns (zusammen mit mir trat Kylie, eine junge, amerikanische Ärztin ihre Stelle an) wurde unmissverständlich erklärt, dass wir eine nicht unerhebliche Investition für die Praxis waren und deshalb gewisse Ansprüche an uns gestellt wurden. Dazu gehörten neben der als selbstverständlich vorausgesetzten bestmöglichen Arbeit auch moralisch einwandfreies Verhalten und die Repräsentation der Praxis nach außen ... und beinhaltete aus irgendeinem Grund ein striktes Jeans-Verbot. Ich beglückwünschte mich innerlich dazu, an diesem Tag meine einzige mitgebrachte Stoffhose angezogen zu haben und überlegte fieberhaft, wo ich wohl auf die Schnelle noch andere herbekommen konnte.
Zuletzt stellte Shannon uns noch ihre drei wichtigsten Fragen. Angeblich hatte sie noch nie jemanden eingestellt, der falsch geantwortet hatte: Hatten wir Haustiere? Was würden wir zu einem Buffet beisteuern? Machten wir Listen?
Meine Antworten lauteten Ja, Schokoladenkuchen, Ja. Und bevor irgendjemand kommentiert: ich betrachte die Katze meiner Eltern als meine eigene, schließlich habe ich sie aus dem Tierheim geholt, und Einkaufszettel sind auch Listen! Keine Ahnung, was an falschen Antworten möglich war, aber irgendwas an Shannon ließ mich mutmaßen, dass vegane Lasagne dazu gehörte.
Ein leises Unbehagen
Insgesamt hatte das Gespräch mit Shannon ein leises Unbehagen geweckt. Nicht, weil mir die Ansprüche unangemessen vorgekommen wären – bis auf die Sache mit den Jeans vielleicht –, sondern weil sie sehr deutlich gemacht hatte, dass die Praxis ein wirtschaftliches Unternehmen ist, das Profit abwerfen muss.
Natürlich ist das auch zu Hause so, trotzdem war ich es nicht gewohnt, so deutlich darauf hingewiesen zu werden. Irgendwie hat es für Ärzte etwas unziemliches, finanzielle Aspekte in den Beruf einfließen zu lassen, schließlich sollte und möchte man unabhängig von äußeren Zwängen das Patientenwohl in den Vordergrund stellen. Doch die Realität sieht anders aus, sowohl zu Hause als auch hier.
Vorbereitung auf die erste Sprechstunde
Für den dritten Tag war bereits eine morgendliche Sprechstunde für mich vorgesehen. Ich war etwas verwundert, ich hatte angenommen, da ich ja unter Supervision arbeiten sollte, dass ich erst einmal mit einem Kollegen zusammen Sprechstunde halten würde, bis man sich davon überzeugt hatte, dass ich allein auf Patienten losgelassen werden konnte. Offenbar hatte man aber mehr Vertrauen in mich als ich selbst. Ich schwänzte deshalb meine letzte Übungsstunde mit dem mir zwar mittlerweile vertrauteren, aber immer noch unsympathischen Computerprogramm und setzte mich zu Jane in die Sprechstunde, um zumindest einmal einen typischen Ablauf eines Arztbesuchs in Neuseeland mitzubekommen.
Was ich sah, beruhigte mich: irgendwie dann doch mehr oder weniger wie man es kannte.
Trotzdem war die erste Sprechstunde der sprichwörtliche Sprung ins kalte Wasser.
Bildquelle (Außenseite): Luca Sartoni, flickr