Mein Bauchgefühl sagte mir damals, dass ich nicht schadlos aus der Situation rauskommen würde. Dieses Bauchgefühl war eine Mischung aus Übelkeit, einem Schweißausbruch und dem Wunsch einfach den Raum zu verlassen.
Was war dem nun vorausgegangen? Ich saß mit drei Kommilitonen in einer mündlichen Prüfung. Der erste Prüfer war Leiter der Abteilung für Psychosomatik und der Zweite kam aus dem Bereich der Herz-Thorax-Chirurgie.
Die Vögel hörten auf zu singen, der Sekundenzeiger der Uhr sprang nicht mehr um und allen stockte der Atem, als ersterer nach dem prozentualen Anteil von Herzneurosen bei Patienten mit Herzbeschwerden in der Rettungsstelle fragte. Da saß ich nun, zum Verlieren verurteilt.
Meine Sympathie galt schon immer der Kardiologie und allem was dazugehört. Vielleicht hat meine Vorliebe dafür wirklich an dem Tag angefangen, als der Herz-Thorax-Chirurg uns zur Prüfungsvorbereitung ein kleines Heft in der Größe des bekannten Klassikers „Chirurgie fast" oder wie ich es nenne „fast Chirurgie“ empfahl.
Das Herz – meine große Liebe
Der Professor der Psychosomatik hingegen empfahl sein eigenes Werk. Es hatte die Ausmaße der Bibel, die Dramaturgie der Ulysses und kostete das Budget eines Monats-Mensaessen. Vielleicht hat diese Geschichte meine weitere berufliche Laufbahn gelenkt, vielleicht auch nicht. Denn so oder so, ich liebe dieses schnörkellose wunderbare Organ: das Herz. Wenn man die Welt bereisen will, hilft niemandem der schönste Spoiler, wenn der Motor nur auf zwei Zylindern läuft. So einfach ist das.
Nach einer langen Pause, ohne dass jemand auch nur gewagt hätte zu atmen, stieß ich mit belegter Stimme folgende diplomatische Antwort aus: „Laut Ihrem Buch sind es mehr als 50 Prozent". Der Herz-Thorax-Chirurg warf daraufhin ein abfälliges „Das kann man so nicht sagen“ ein, welches mit einem lauten „Natürlich kann sie das so sagen!“ beantwortet wurde. Irgendwann standen sich beide Parteien gefährlich nah gegenüber und verwiesen uns Prüflinge des Raumes. Das wäre gar nicht nötig gewesen, da wir den Rest auch vor der Tür gut verfolgen konnten.
An genau diese Geschichte musste ich nun denken, als ich kürzlich las: „Neues Organ gefunden“. Zunächst hatte ich mich riesig darüber gefreut. Die Astronomen finden ständig neue Sterne oder auch mal einen Sonnensytstem oder neuen Planeten und wenn nicht, werden bestehende Planten zu Zwerplanten degradiert. Da ist immer was los. Nur die unendlichen Weiten des Weltalls sind halt sehr, sehr weit weg und so ein neues Organ, das ist doch mal was handfestes.
©Karin Schneider
Ein neues Organ. Oder doch nicht?
Dass mal etwas übersehen oder falsch verstanden wird, wäre ja auch nicht das erste Mal. Seit dem zweiten Jahrhundert nach Christus war das Werk „Corpus Galenicum“ des Gladiatorenarztes Claudius Galenus die Grundlage des gesamten anatomisches Wissens. Seine Beschreibungen waren größtenteils falsch, dennoch wurde dies nie hinterfragt, da alles plausibel war. „Im 18. Jahrhundert galt das Einblasen von Tabakrauch in den Anus als eines der wichtigsten Erste-Hilfe-Maßnahmen bei Wasserunfällen“. Das hat sich in der Praxis nun auch nicht bewährt, nur um ein Beispiele zu nennen.
Erst als ich weiterlas verstand ich, dass es sich um das Gekröse (Mesenterium) handelte, über das gesprochen wurde. Die jüngsten Forschungen der Limerick Universität zeigen, dass das Mesenterium eine zusammenhängende Struktur aufweist und damit die Bezeichnung „Organ“ gerechtfertigt ist. Diese Erkenntnisse wurden in der Fachzeitschrift „The Lancet Gastroenterology & Hepatology“ veröffentlicht.
Meiner anfänglichen Begeisterung folgte rasch die Verwirrung – war das nicht schon immer ein Organ? Oder hatte ich das falsch notiert? Oder falsch in Erinnerung? Oder war es ein offenes Geheimnis, dass bisher niemand bewiesen hatte? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht mehr und um das Gekröse mache ich eh einen weiten Bogen, wegen Spoiler und Motor und so. Die viel spannendere Frage, was es denn so macht wenn es nun mal ein Organ ist, hat leider immer noch keiner geklärt.
Endlich ein Organ fürs Bauchgefühl?
Ich glaube, dass einfach an der falschen Ecke gesucht wird. Da der Darm ein wichtiges Organ des Immunsystems ist und das Mesenterium ihn an der Bauchwand fixiert, ist es naheliegend, ihm auch einen Funktion im Immunsystem zuzuschreiben. Dabei bietet sich jetzt die Chance, dem „Bauchgefühl“ ein Organ zuzuordnen. An jenem oben beschriebenen Prüfungstag hatte ich das Gefühl, meine Eingeweide würden versuchen, sich selbständig zu machen und sich in suizidaler Absicht zu einem Darmverschluss verknoten. Warum sollte es nicht hinter so einer Tat einen Lenker, einen geheimen Strippenzieher, im Hintergrund geben? Ein ausgelagertes zweites Gehirn? „Postfaktisch“ würde damit eine ganz neue Bedeutung gewinnen und könnte vielleicht sogar behandelbar sein. Wäre dies nicht wünschenswert für diese unsere Welt?
Mein Bauchgefühl hatte mich jedenfalls damals nicht im Stich gelassen. Als wir wieder in den Raum gerufen wurden, wurde die zuerst gestellte Frage nicht mehr erwähnt. Der Leiter der Abteilung für Psychosomatik fragte mich hingegen, woran man eine Arztpraxis mit einem relativ hohen Anteil an Gastritispatienten erkennt. Ich hatte keine Ahnung, konnte mich aber über die Prüfung mit exzellenten Kenntnissen in der Herz-Thorax-Chirurgie rüber retten.